Wünsche dir eine erholsame Nacht
Ardan
Leora, die lachte.
Leora, die sich in einem Ballkleid um die eigene Achse drehte und tanzte.
Leora, die von Kindern umgeben war und mit ihnen spielte.
Leora, die erhobenen Hauptes vor den Bürgern Ignulaes stand und stolze Reden schwang.
Leora, deren Fertigkeit im Bogenschießen viele ins Erstaunen versetzte.
Leora, die mit mir an ihrer Seite durch die Stadt schritt und freundliche Gespräche führte.
Leora und ich auf dem Kampfplatz und wie ich erbärmlich gegen sie verlor.
Leora und ich, wie wir in unseren jugendlichen Jahren heimlich Streiche spielten.
Leoras lächelndes Gesicht. Ein lächelndes, unvergessliches Gesicht in strahlenden Farben, das sich in mein Gedächtnis einbrannte. Meine Arme, die um Zen lagen, waren ganz angespannt, doch er beschwerte sich nicht. Ganz im Gegenteil, er lehnte sich gegen mich und legte seine kleinen Hände auf meine Unterarme. Für die Augen anderer sah es vielleicht aus, als würde ich ihn beschützend festhalten, aber in Wahrheit hielt mich der kleine Mann aufrecht.
Azuria berührte mich am Oberarm, ich sah mitfühlende Wärme in ihren Augen. Auch Thales bekundete sein Mitgefühl, indem er mir kurz auf die Schulter klopfte und sich wieder auf das Spektakel auf der Bühne konzentrierte. Ich war den beiden mehr als dankbar, dass sie mich unterstützten und sich ausnahmsweise nicht in die Haare kriegten. Sie respektierten die jährliche Tradition. Sie waren für mich da, wie Freunde es eben taten.
Als Leoras Gesicht in Funken verblasste, ertönte tosender Applaus. Die Schauspieler verbeugten sich zweimal und machten einem erwachsenen Mann mittleren Alters und einer jungen Frau Platz. Einige Meter vor ihnen stand ein mit Ornamenten verzierter, hüfthoher Krug auf einem Podest. Diesen würde ich nachher brauchen, wenn das Lied, das angestimmt wurde, seinen Höhepunkt erreichte. Mein Körper wehrte sich bereits dagegen, ich wünschte, ich müsste nicht nach vorne gehen und in all die traurigen Gesichter meiner Mitmenschen blicken, aber es war ein wichtiger Moment für alle. Auch für mich. Tradition blieb Tradition.
Ich bin diese eine Stimme, im kalten Wind
die flüstert
und wenn du genau hinhörst,
kannst du mich quer durch den Himmel rufen hören.
Solange ich noch nach dir greifen
und dich berühren kann,
weiß ich,
dass ich niemals sterben werde.
Die durchdringende, tiefe Stimme des Mannes und die sanfte, helle der Frau vermischten sich zu einem leidenschaftlichen Gesang, sie harmonierten perfekt und schenkten dem Lied Leben. Ich wappnete mich gegen das Gefühl der Ohnmacht, das mich in die Knie zwingen wollte, als ich wenig später Zen von meinem Schoß hob, um ihn Azuria zu geben.
In Zens Augen schwammen Tränen, als er zu mir aufsah und ich den Bereich verließ, um zur Bühne zu gehen. Obwohl er meine Schwester nie kennengelernt hatte, wusste er fast alles über sie. Sie war in seinen Gedanken so lebendig wie in meinen. Dafür hatte ich nach vielen Erzählstunden gesorgt. Schritt für Schritt näherte ich mich dem Gesangspaar, den Blick fest auf den Krug fixiert, in dem eine ganz besondere Asche aufbewahrt wurde. Asche, die um unseren Heiligen Baum lag. Dort, wo man Leora begraben hatte. Es war nicht ihre Asche, aber für mich kam es dem annähernd gleich.
Erinnere dich daran,
dass ich dich niemals verlassen werde,
solange du dich nur an mich erinnerst.
Die Worte des Liedes hallten in meinem Kopf wider, als ich mich erhobenen Hauptes vor den Krug stellte, Augen auf die hellgraue Asche gerichtet, und meine Hände über die Öffnung hielt. Das Brennen hinter meinen Augen wurde stärker, Flüssigkeit sammelte sich in ihnen, doch keine Träne rollte mir über die Wange. Stattdessen murmelte ich die Formel für einen Feuerzauber, den nur königliche Mitglieder kannten. Es handelte sich dabei um uralte Magie, die Funken in der Asche auslöste, sich diese zu einem bunten Feuer vermischten und von mir in den Himmel geschossen wurde. Feuer konnte viele Farben annehmen, jedoch nicht alle gleichzeitig. Dieses Feuer allerdings erhellte den Himmel über uns in verschiedenste Farben in Gestalt eines Löwen. Das Wappentier von Leora, ihr damaliger Gefährte.
Während hinter mir die Sänger den Höhepunkt des Liedes sangen, bewegte ich meine Hände in der Luft, beschrieb den Weg des bunten Löwen und ließ ihn letztendlich in seine Einzelteile zerspringen. Farbenfrohe Flammenflocken fielen sogleich vom Himmel herab. Es sah aus, als würden kleine Sterne zu Boden fallen. Sterne, die mich an Leora erinnerten. Alles erinnerte mich an sie und ich spürte, wie ich den Kampf gegen die Tränen verlor. Stumm rollten sie meine Wangen hinab. Auch wenn jeder hier meinen schmerzlichen Verlust kannte, wollte ich dennoch nicht, dass man meine Tränen sah. Jedoch waren alle sowieso viel zu sehr mit den Flammenflocken beschäftigt. Eine gute Ablenkung, damit ich mir in einer unscheinbaren Handbewegung, die nassen Spuren von den Wangen wischen konnte.
Ich atmete tief durch und neigte den Kopf, um meiner toten Schwester den letzten Respekt zu erweisen. Einige Flammen landeten auf mir, wärmten kurz die Stellen und verblassten. Mein Akt war hiermit getan.
https://www.youtube.com/watch?v=vnS07jLPSUE
Jenaya
Wenn ich könnte, würde ich am liebsten immer weiter und weiter reiten. Irgendwohin, ganz weit weg, wo ich allein sein konnte, fern von alles und jedem. So sehr ich versuchte, Tag für Tag stark zu bleiben, gab es Momente, in denen das einfach nicht mehr möglich war. Insbesondere, wenn Kenai in irgendeiner Art und Weise involviert war. Es brach mich entzwei, was ich in ihm gesehen hatte. Welch Schmerzen er all die Jahre erlitten haben musste und niemandem etwas davon gesagt hatte. Nicht einmal mir. Er behielt alles für sich und gab nichts zurück.
Wie auch? Er war kein Mensch. Er war eine lebendige Waffe. Das war jedenfalls meine Vernunft, die sprach, aber mein Herz, es sah die Dinge anders. Es litt. Es blutete. Es wusste sich nicht mehr zu helfen.
Sobald ich die Stallungen sah, machte ich mich für einen sicheren Absprung bereit, drückte dem Stalljungen die Zügel in die Hand und eilte davon. Ich drehte mich nicht um. Ich wartete nicht auf Kenai. Ich sah nicht zu ihm. Ich schaffte es nicht, in sein Gesicht zu sehen. Ich ertrug seine Nähe momentan einfach nicht. Noch nie hatte es mich derart zerrissen, ihn zu lieben. In mir drängte sich die Frage auf, wieso ich mich überhaupt in ihn verliebt hatte. Warum ich mich nicht wie eine normale Prinzessin in einen normalen Prinzen verguckt hatte? Oder in einen Generalssohn wie Cyrel. Warum dieser Weg? War das dritte Auge nicht Fluch genug?
Schmerz pochte hinter meiner Stirn, in meinen Schläfen pochte es genauso schlimm. Ich ignorierte jede Person, die mir über den Weg lief und begab mich schnurstracks in die Bibliothek, die mein privater Rückzugsort war. Dort konnte ich mich verstecken. Dort konnte ich für eine Weile jemand anderes sein. Dort konnte ich Zuflucht vor Kenai finden, wenngleich dies eigentlich unser gemeinsamer Ort war. Hier las ich ihm oft vor. Hier hörte er mir ausdruckslos zu, während ich ihm vorlas und versuchte, ihm die Bedeutung von Worten näherzubringen.
Bis jetzt vergebens. Alles war vergebens.
Ich ließ mich schluchzend in einen dunkelblauen Ohrensessel fallen, zog die Beine an und umschlang sie mit den Armen. Das Gesicht zwischen den Oberschenkeln vergraben, ließ ich den Tränen freien Lauf, während mein Körper von den Schluchzern durchgeschüttelt wurde.
Warum ich? Warum er?