Cael
Skira nahm keine Rücksicht darauf. Ihr Drängen war deutlich spürbar. >Versteh mich nicht falsch. Ich gehöre weder zu den Guten noch zum absoluten Abschaum. Meine persönliche Leidensgeschichte dient nicht dazu, dass du Mitgefühl empfindest oder schlimmer noch… Mitleid mit mir hast. Ich lebe in der Schattenwelt. Ich bin klar bei Verstand. Zeit spielt keine Rolle mehr. Man gewöhnt sich an die Umstände, wenn man lebt wie ich. Es ist keine Lüge, dass ich all das aus Liebe auf mich genommen habe. Klingt schnulzig, ich weiß. Das ist die eine Seite der Medaille. Die andere hingegen… Habe ich schon erwähnt, wie rachsüchtig ich bin? Und dass ich einen Hang zur Dramatik habe? Ja? Dann solltest du das bloß nicht vergessen. Die höheren Mächte haben es jedenfalls nicht. Sie würden zu gerne wissen, wohin es mich verschlagen hat, deshalb ein ganz wichtiger Hinweis für dich.< Diesmal bildete ich mir den Atem an meinem Ohr nicht ein. Ihr Flüstern hallte laut in meinen Gedanken wieder. >Die Schattenwelt wird von keinem Gott beherrscht. Was hier passiert, dringt nicht hinaus. Das ist unser Spielplatz. Unser Reich. Unser Geheimversteck. Niemand wird dich finden. Keine Magie ist in der Lage deine Existenz bis hierhin zu verfolgen. Du bist… unsichtbar. Selbst für prophezeiende Kräfte.<
Das war beachtlich. Im Grunde genommen verschmolz man mit der Welt zu einem Schatten. Man könnte überall sein. >Korrekt. Ein kluges Köpfchen. Das wirst du des Öfteren benötigen.<
Vor mir erschien das Bild einer großgewachsenen Frau in enganliegender Kleidung, hinter der sich eine Armee aus Schatten materialisierte. Sie trug ihr langes, dunkles Haar zu einem geflochtenen Zopf. Obwohl ihr Gesicht undeutlich zu erkennen war, spürte ich die Mordlust in ihrem Blick. Ein großer Kampf stand bevor. >Das war der schicksalhafte Tag, an dem ich fiel. Ich schaffte es bis in die Unterwelt, forderte Eophoras Seele zurück, aber der Widerstand war zu gewaltig. Allein hätten sie sich mir nicht in den Weg gestellt, sie haben wie so oft mit unfairen Mitteln gekämpft.< Sie schnaubte verächtlich. >Die Kleinigkeiten erspare ich dir. Ich verlor zwar den Kampf, aber nicht den Krieg. Schlau wie ich bin, habe ich einen Teil von mir in der Schattenwelt aufbewahrt. Meinen eigenen Schatten. So wie du deinen Geist auf Reisen schicken kannst, ist dein Schatten ein Teil von dir, der fortbesteht, wenn du gewisse Maßnahmen triffst. Den Trick werde ich dir zeigen. Als zukünftiger Schattenmonarch wirst du ihn gut gebrauchen.<
Offenbar hatte ich hier kein Mitspracherecht. Das mit dem Schattenmonarchen war mir noch ein Rätsel und ich wusste nicht, ob ich überhaupt dafür gemacht war diese Rolle zu übernehmen. Ich hatte bereits genug zu tun. Zum Beispiel Valaris vor dem Untergang zu bewahren und meine Liebsten zu beschützen. >Jajaja, verstehe schon. Für dein sterbliches Leben ist das alles momentan zu viel, aber da musst du durch. Du willst fähig sein diejenigen zu beschützen, die dir wichtig sind? Du willst dein volles Potenzial ausschöpfen? Stärker werden? Den Kaiser stürzen und unschuldige Leben retten? Dann solltest du den Weg beschreiten, der nur für dich bestimmt ist und dich von mir führen lassen. Niemand anderes versteht den dunklen Teil von dir so gut wie ich. Den, den du verschlossen hältst. Den du nur mit größter Vorsicht nutzt, wenn sonst nichts Anderes funktioniert. Das gehst du vollkommen falsch an, Reavstone.<
Ich runzelte die Stirn, wollte widersprechen, aber Skira kam mir zuvor. >Spar dir die Worte. Du hast es hier mit jemandem zu tun, der Jahrtausende überlebt hat und noch bei klarem Verstand ist. Du tust gut daran mir aufmerksam zuzuhören und mein großzügiges Angebot zu akzeptieren.<
Angebot?
>Damit du die andere Seite deiner Gaben verstehen und anwenden kannst, wirst du dich mit mir verbünden müssen. Ich werde deine andere innere Stimme sein. Werde dich anleiten und dir verschiedene Wege aufzeigen, wie du die Schattenwelt und alles, was dort existiert, zu deinem eigenen Vorteil nutzen kannst. Ist das geschafft, werden sich unsere Wege wieder trennen. Dann kann ich mich endlich in den Ruhestand verabschieden. Ich habe lange genug gewartet und du bist der Einzige, der es so weit gebracht hat. Alle anderen vor dir… naja. Nicht alle haben den Tod gefunden, auch wenn es das geringere Übel gewesen wäre.<
Das klang alles andere als beruhigend. Hatte ich unwissentlich mein Leben lang in Gefahr gelebt? Wegen einer uralten Fehde zwischen Göttern und den drei Frauen? Ich fuhr mir mit beiden Händen durchs Haar, seufzte schwer. So viele Probleme… >Du nennst das viel?< Sie lachte. Dunkler Humor, notiert. >Oh, mein lieber Reavstone. Du hast absolut keine Ahnung, was dich in Zukunft erwartet. Deswegen nochmal zur Betonung… Akzeptiere dein Schicksal, geh einen Bund mit mir ein und ich werde dir alle nötigen Werkzeuge in die Hand legen, damit du dir in Zukunft das Haus bauen kannst, das du dir für deine Liebste wünscht.<
Meine Zukunft mit Ilea. Ja… genau das wünschte ich mir. Ein Zuhause für uns beide. Verheiratet. Mit unserer eigenen Familie. Ich sah auf meine Hände hinab, Hände, die heute getötet hatten. Noch vor einem Jahr wäre das undenkbar gewesen. Insbesondere wegen meines stark ausgeprägten Gewissens. Jedes Leben war wertvoll. Gewalt sollte nie die Lösung sein, doch in dieser Welt hatte ich täglich erlebt, was Güte brachte.
Nichts.
Ich musste nur an meine Mitkämpfer denken. An ihre verdrehten Körper, dem vielen Blut und der Leere in ihren Augen. Sie waren tot. Sie würden nie wieder die Möglichkeit erhalten ihre Liebsten in den Arm zu nehmen. Zu lachen oder vor Freude zu weinen. Worte des Friedens hätten sie nicht retten können. Nicht einmal ihre eigenen Waffen. Ich selbst war daran gescheitert sie alle zu beschützen. Ich war davon ausgegangen, dass ich stark genug dafür war. Stark genug dem Übel zu trotzen, ohne mich selbst zu verlieren. Ich wollte weiterhin ein guter, gerechter Mann sein. Jemand, der im Einklang mit seiner Moral und seinen Handlungen war. Offenbar war ich an meine Grenzen gestoßen. Ob es mir gefiel oder nicht.
Langsam hob ich den Blick. Trotz der mich umgebenden Dunkelheit meinte ich einen Schatten zu sehen, der sich vom Hintergrund unterschied. Die vage Gestalt einer Person. Was würde mich all das hier kosten? Wer würde ich sein?
>Das ist und bleibt deine Verantwortung. Wer du bist und wer du sein wirst, liegt an dir. Nicht an mir. Je fester du an deine Person glaubst, an das, was dich ausmacht, wird dich niemand manipulieren können. Selbstzweifel sind dein Untergang. Fang nicht damit an. Du musst stark in deiner Vernunft und in deinem Herzen sein. Das ist der erste wichtige Schritt, um ein wahrhaftiger Schattenmonarch zu werden. Vergleich es mit deiner Liebe für die Lichtbringerin. Sie ist unerschütterlich. Beständig. Genau diese Stärke brauchst du für die Dunkelheit in dir.< Die Gestalt schwebte näher, sie war fast so groß wie ich. >Das Schwarze Herz ist mein ungebrochener Wille. Es ist das Ergebnis jahrelanger harter Arbeit und Hingabe. Jetzt trägst du es. Damit kannst du die letzte Tür in dir öffnen, Reavstone. Du bist bereit.<
Imesha
Während die Hohepriesterin sich um Ilea kümmerte, bemühte ich mich ruhig zu bleiben. Ich sah niemanden an, zog mich innerlich zurück und kratzte jedes bisschen Selbstbeherrschung zusammen, das seit dem Kampf übrig war. Solche Situationen erforderten einen kühlen Kopf. Egal, wie sehr die Gefühle in einem tobten. Egal, wie sehr ich davonlaufen wollte. Dabei musste ich an Rukos Lehren denken. An das, was er mir früh beigebracht hatte, um als Jägerin zu überleben. Diese Erfahrungen rief ich zurück und kam etwas zur Ruhe. Zur selben Zeit erwachte Ilea aus ihrer erzwungenen Trance. Ihr ging es den Umständen entsprechend gut. Sie wusste, wer wir waren und rückte sogleich mit der Frage heraus, die uns alle beschäftigte. Ryu fiel es schwer überhaupt auszusprechen, dass er verschollen war. Verschollen war ein besseres Wort als tot.
Ich konnte sehen, wie es in meiner Freundin zu arbeiten begann und ihre Pupillen sich vor Panik erweiterten. Ehe sie komplett den Verstand verlor, nahm ich ihre kalten Hände in meine und drückte sie fest. >Wir wissen nicht, wo er ist. Deine Mutter meint, er wäre irgendwo in der Zwischenwelt. Bevor wir vom Schlimmsten ausgehen, möchte ich, dass wir alles probieren, um ihn zu finden.< In meiner Brust pochte es vor Verzweiflung sehr stark, doch nach außen hin blieb meine Stimme völlig ruhig. Ich ließ Ilea keine Sekunde aus den Augen. >Zwischen euch besteht ein einzigartiger Bund. Ihr seid mit der Zwischenwelt vertraut und habt doch diesen einen gemeinsamen Ort, der euch beiden gehört. Vielleicht ist er dort.< In meinem Kopf arbeitete es mit Hochdruck. >Oder sein Gefährte Ivoli. Vielleicht kann dein Gefährte oder Roselyn ihn aufspüren. Wo Ivoli ist, muss Cael nicht weit sein. Oder? Ich kenne mich mit dem Ganzen nicht aus, aber Schritt für Schritt sammeln wir so viele Hinweise wie möglich.< Nach einem tiefen Atemzug sprach ich weiter. >Er wird zurückkommen. Und dann kümmern wir uns um deinen Vater und diesen Nanashi. Einverstanden?<