Zen
Es war schön zu sehen, wie Willow sich nach und nach entspannte und schnell einen Rhythmus fand. Dafür, dass sie bislang alleine getanzt hatte, war sie eine sehr gute Tanzpartnerin. Es fiel mir leicht ihr zu folgen oder sie zu führen. Es fühlte sich natürlich an. Unbeschwert. Gleichzeitig spürte ich ihren Blick auf mir. Sie sah nur mich an, die anderen interessierten sie nicht. Diese volle Aufmerksamkeit wirbelte meine Gedanken durcheinander, Wärme schoss in meine Ohren.
Ich nahm gar nicht wahr, was um uns herum passierte, bis jemand gegen mich stieß und glockenhelles Lachen ertönte. Kersia entschuldigte sich kichernd, Elora stimmte mit ein. Die beiden hatten wohl ihren Spaß. Ich schüttelte lächelnd den Kopf und trat reflexartig zur Seite, wobei ich fast gegen Willow stieß. Immerhin war ich ihr nicht auf die Füße getreten, auch wenn sie kein Problem damit hätte. >Hast du Spaß?< fragte ich sie gut gelaunt.
Kersia
Irgendwann wurde mir so warm, dass ich Elora um eine Pause bitten musste. Ihr ging die Luft natürlich nicht aus, das lag bestimmt am Harpyie-Gen. Sie brachte mir ein Glas Wasser und zwinkerte mir zu. >Die richtige Abkühlung findest du draußen im Meer. Brauchst nur dein Kleid ausziehen und für Aufregung sorgen.<
Ich lachte. >Mag sein, dass ich sehr freizügig und rebellisch bin, aber selbst ich kenne die Grenzen meiner Freiheit. Ich will nicht bestraft werden.< Elora blickte unschuldig drein und schaute zu ihrem Zwillingsbruder, der immer noch mit meiner Mutter tanzte. Ihrem erheiterten Gesichtsausdruck zu urteilen, erzählte er die guten Anekdoten. In dieser Hinsicht war Elior ein professioneller Aufreißer. Schmunzelnd trank ich das Glas Wasser in wenigen Zügen leer und fühlte mich sogleich besser. Ich fand es total süß, wie Zen mit seiner Noch-nicht-Freundin Willow tanzte. Man musste blind sein, um das beidseitige Interesse nicht zu erkennen.
>Vielleicht gehe ich mich doch kurz auffrischen.< sagte ich an Elora gewandt, die kurz nickte. Ich musste nicht nach dem Weg fragen, um zu wissen, wo sich welches Zimmer befand. Ich hatte dieses Gebäude so oft erkundet, dass ich es mir bildlich und im Detail vorstellen konnte. Erst trat ich auf den weiten Balkon hinaus, bog nach rechts ab, bis ich einen Treppenaufgang erreichte, den ich mit eiligen Schrittes hinaufstieg und durch eine Glastür in die großräumige, lichtdurchflutete Bibliothek gelangte. Hier oben war es deutlich stiller. Nur kurz huschte mein Blick an den vielen Regalen entlang, wo ich viele Stunden meiner Kindheit verbracht hatte. Anschließend tapste ich zu einer versteckten Nische, wo eine Wand mit wunderschönen Landschaftsgemälden tapeziert war. Ich legte eine Hand flach auf das Bild mit dem Meer aus Wiesenblumen und fühlte mich direkt wie ein neugieriges, kleines Kind, das Verstecken spielte. König Thales war ein großer Freund des Rätselns gewesen, darum gab es viele kostbare Entdeckungen in seiner Privatresidenz. Ich war mir sicher, dass ich sie alle gefunden hatte, aber bei dem Mann wusste man nie... Mit schneller klopfendem Herzen schob ich das Bild ein Stück weit runter, sodass der Mechanismus einer versteckten Tür ausgelöst wurde, die sich zu meiner linken Seite öffnete. Dahinter verbarg sich ein spiralförmiger Treppenaufgang, der mich in die nächste Ebene brachte. Ich schlüpfte auf leisen Sohlen hinein, hörte, wie die Tür sich hinter mir schloss, und sprach das Wort "fotina" aus. Daraufhin begannen kleine funkelnde, azurblaue Steinchen in den Wänden aufzuleuchten, die mir den Weg hinauf wiesen. Ich folgte ihnen, fühlte mich wie in der Tiefsee, wo fast alle Lebewesen in den verschiedensten Farben leuchteten. So wie Geias Schwanzflosse.