Zen
Mein Blick huschte zu Eve, die wieder an einem Keks knabberte. Obwohl sie erst vor anderthalb Tagen in unser Leben hineingeboren war, fühlte es sich an, als wäre sie schon viel länger bei uns. Ich lächelte warm und ließ meinen Blick weiter zu Willows Lippen wandern. Auch sie lächelte. Die Ereignisse vorgestern hatten Spuren hinterlassen, aber davon war kaum etwas zu sehen. Sie hatte sich dem Angriff aus ihrer Vergangenheit gestellt und blickte weiter nach vorn, wofür ich sie zutiefst bewunderte. Sie hatte keine Ahnung, wie stark sie wirklich war, aber ich würde sie jedes Mal daran erinnern, wenn sie es vergaß.
Ich löste meine ineinanderverschränkten Hände und legte ihr einen Arm um die Taille, meine Finger locker auf ihrer Hüfte ruhend. Wir saßen recht weit vorn, mit einem ausgezeichneten Ausblick auf das Geschehen im innersten Ring der Arena. Dort, wo man eine Bühne errichtet hatte und auf der Königin Azuria sowie ein Priester des Königreichs standen, um alle Anwesenden zu begrüßen. Dazu gehörte meine Familie - bis auf Silia und Akela. Es herrschten andere Regeln in ihrer Welt, die uns allen bekannt waren und trotzdem fand ich es schade, dass sie es nicht hatten einrichten können. Hoffentlich besuchte meine Schwester uns bald wieder. Ich wollte ihr Willow vorstellen. Und zugeben, dass sie von Anfang an richtiggelegen hatte, was die Frau neben mir betraf.
Und dann war da noch mein Bruder. Ryu. Der ebenfalls hier sein sollte. Der Gedanke an ihn schmerzte mich und bereitete mir große Sorge, weil zu viel Zeit vergangen war, aber ich klammerte mich dennoch an die Hoffnung, dass Sakrazhue auf ihn Acht gab. Dass er beschützt wurde. Genau wie Cael. Die beiden hätten einen Tag wie diesen groß gefeiert. Sie hätten Jahwe sicherlich schnell akzeptiert und ihn als Freund gewonnen.
Ich schluckte den aufsteigenden Kummer hinunter und konzentrierte mich wieder auf die wichtige Ansprache. Azurias Stimme hallte laut und klar durch die gesamte Arena und ich spürte eine ähnliche Energie aus den Zuschauerreihen wie bei den Prüfungen.
Kersia
Der heutige Tag sollte sich eigentlich nicht groß von anderen bedeutenden Feierlichkeiten unterscheiden, denen ich schon seit meiner Geburt beiwohnte, aber es fühlte sich dennoch anders an. Vielleicht weil ich die Person, um die es heute ging, persönlich kannte und zu schätzen gelernt hatte. Abgesehen von den seltsamen Aussetzern in meinem Körper, wenn ich das Gefühl hatte von Kopf bis Fuß zu sprudeln. Wie eine fröhliche Quelle, die trockenes Land wiederbelebte. Ich hatte niemandem davon erzählt, nicht einmal Geia, denn ich vermutete, dass sich dieser Zustand von selbst verflüchtigen würde. Wie menschlicher Schnupfen, der nach ein paar Tagen verging. Keine große Sache. Nichts, worüber ich mir den Kopf zerbrechen müsste, weil das Jetzt wichtiger war.
Und im Jetzt hatte ich die Prinzessin der Meere zu sein, die ihrer Mutter aufmerksam zuhörte, während ich den Blick hin und wieder umherschweifen ließ. Wachsam. Ein bisschen misstrauisch. Was sich am Tag der Prüfungen abgespielt hatte, ließ sich schwer vergessen. Ich würde nicht zulassen, dass sich solch ein Ereignis wiederholte, deshalb hatte ich vorgesorgt und mich mit Waffen ausgestattet, die unter meinem Kleid aus feinster Seide verborgen blieben. Den Dolch an meinem Oberschenkel zum Beispiel. Damit konnte ich selbst aus dieser Entfernung einen Käfer am anderen Ende der Arena aufspießen. Sollte ich also einen guten Grund finden, diese Maßnahme zu ergreifen, dann würde ich das guten Gewissens tun. Ich hoffte nur, dass das nicht nötig war. Der heutige Tag sollte Jahwe zuliebe ein guter werden. Er hatte lange im Verborgenen darauf hingearbeitet und verdiente es, sich seinen Traum zu erfüllen. Er würde viel Gutes bewirken. Das wusste ich heute besser als zu Beginn.