Leanne:
Ich hatte die Flüsterstimme sehr wohl gehört, aber ich konnte mich nicht vom Fleck rühren. Vielleicht war alles ja auch nur ein Trick. Und doch-viel länger konnte ich mich hier nicht verstecken. Spätestens zur Morgendämmerung würde ich mich erkenntlich geben, ob dort draußen nun ein Verbündeter oder ein hinterlistiger Mörder hocken würde. Nur falls ich hier in der Arena weiter überleben sollte und wollte, würde ich mich tarnen müssen. Und ich hatte auch schon eine Idee, wie ich das anstellen konnte. Meine Schwester konnte nicht viel tun, mir ihrem kranken Bein, aber sie konnte malen. Und wie sie das konnte. Ich sehe sie am Fenster stehen und auf all die bunten Blumen zeigen, von denen ich ihr Blüten reichen sollte oder wie sie auf unserer Kutsche saß und Vater alle drei Meter bat, anzuhalten und wie sie dann mit ihren langen, schlanken und doch unvorstellbar kräftigen Armen nach den leuchtenden Kelchen langte. Sie malte allesmögliche, aber vor allem erzählten ihr Bilder Geschichten. Auf manchen mochte man ahnen, dass es eine Szene aus den Spielen darstellte, Kampf, Tod, Verzweiflung und Angst in den Gesichtern, in denen man all diese Gefühle ablesen konnte, ohne, dass die Personen auf ihren Bildern überhaupt richtige Gesichtszüge besaßen. Sie malte auch fremde Welten, die all diese mündlich verbreiteten Märchen von Wohlstand und absoluten Frieden widerspiegelten. Ich liebte ihre Bilder-und lieben war noch nicht einmal der richtige Ausdruck dafür. Ihre Bilder waren ihr Leben, nachdem sie keine Geschichten mehr schreiben durfte. Vater hat es ihr widerwillig verboten, weil Mutter deshalb immer verzweifelt geweint hat und meinte, wenn sie nur die Geschichten meiner Schwester fänden, wäre es mit unserem Ruf vorbei. Damals habe ich diese Geschichten noch nicht verstanden und auch nicht, warum sie so eine Gefahr für uns darstellten. Aber jetzt tue ich es sehr wohl. Es war ihre Art von Widerstand und fast bin ich mir sicher, dass sie immer noch schreibt und Vater all das irgendwo im Wald vergräbt und nicht verbrennt, wie er sagt. Ja, meine Schwester war eine Künstlerin. Niemand verstand sie wirklich. Und ihr Rezept für die außergewöhnlichen Farben ist eines ihrer größten Geheimnisse, aber immerhin weiß ich, dass es mit einer Blüte beginnt und irgendwann in dickflüssigen, vor Farbe strotzenden Brei endet. Den Weg dazwischen werde ich mir irgendwie zusammenreimen müssen. Ich freute mich jetzt schon darauf, wenn meine Schwester mich mit Farbe bemalt im Fernsehen sehen würde und lächeln wird, weil sie merkt, wie viel ich doch trotz allem von ihr gelernt habe.
Rowan:
Von den Umrissen der Gestalt her, hatte ich meine Gegnerin zuerst auf ein wesentlich jüngeres Mädchen geschätzt, aber durch das Mondlicht, welches sie noch schwach erreichte, bemerkte ich an ihren Zügen, dass sie das gar nicht war. Ich konnte sie sehr schwer einschätzen, auch weil ich keine Ahnung hatte, welchem Distrikt sie angehörte. Hinter dem Rücken umklammerte ich meine Axt, aber sie rührte sich nicht. Also ging ich auf sie zu. Sie versuchte mir direkt in die Augen zu schauen, aber ich wich ihrem unagenehmen Blick aus. Kurz bevor ich sie erreicht hatte, fing sie urplötzlich an zu rennen. Ich versuchte mich auf sie zu werfen, landete aber etwas unsanft auf den Knien. Wie peinlich. Ich stütze mich mit den Händen auf dem von Rissen verzerrten Betonboden ab. Gerade wollte ich mich wieder aufrappeln, als mich ein scharfer Schmerz von der rechten Hand über den ganzen Körper durchzuckte. Mein Stöhnen glich eher einem Brüllen. Ich hob meine Hand an und sah wie ein ´schweres Messer samt etwas kleinem, länglichen daran herabfiel. Zwei Finger. Ich hatte zwei Finger verloren. Und nicht wenig Blut. Ehe ich einen Gedanken an meine momentane Situation verschwendete und den kalten Boden nach meiner Axt abtastete, stand das Mädchen mit dieser direkt über mir. Die Axt hielt sie ein Stück weit über ihrem Kopf, zum Ausholen bereit. Bereit mir meinen Kopf zu zersprengen. Ich holte tief Luft. "Eine Bewegung und dein nettes Teil hier rauscht auf dich runter, mein Freund. Und jetzt hör gut zu: Noch hast du die Wahl. Du könntest mir als Verbündeter dienen." Dienen. Verbündeter. Lieber werde ich sterben, als jemanden zu dienen oder jemandem dankbar sein zu müssen. Aber nicht unter diesen Bedingungen. Das wäre schon sehr arm. "Warum nicht?" Meine Stimme klang unecht, als hätte man sie irgendwie verfälscht. "Wie kann ich sichergehen, dass du mich nicht doch umbringst, nachdem du aus dieser dummen Situation erlöst bist?" Sie grinst. "Ich schätze, da musst du mir einfach vertrauen..." "Das reicht nicht." Sie verstärkte den Griff um die Axt. "Meine Hand...", sage ich schnell und bemühe mich gleich danach wieder um einen gelangweilten Tonfall. "...ich bin Rechtshänder und ohne Mittel-und Zeigefinger wird es schon schwer, eine Axt zu schwingen...."