Jenaya
Als ich mich auf die Seite drehte, spürte ich einen kalten Hauch in meinem Nacken. Die Decke war mir von den Schultern gerutscht, darum versuchte ich im Schlaf danach zu greifen und mich bis zum Kinn in die Wärme hineinzukuscheln. Allerdings tastete ich ins Leere. Etwas stimmte nicht. Stirnrunzelnd murmelte ich Kenais Namen. Keine Antwort. Kein warmer Körper, der mich näher an sich zog. Der Traum zerplatzte. Ich erschauderte wegen der Kälte, die intensiver wurde und öffnete blinzelnd ein Auge. Zunächst sah ich nichts als Schwärze, doch ich gewöhnte mich schnell an die schwachen Lichtverhältnisse. Ich öffnete das andere Auge und fand keinen Kenai vor. Er lag nicht mehr neben mir. >Kenai?< fragte ich in die Stille hinein.
Verwirrt hob ich den Kopf leicht an. Ein Zettel lag auf seinem Kissen. Darauf stand ein Name. Ein mir sehr bekannter Name. Unruhe erfasste mich. Er war tatsächlich mitten in der Nacht aufgebrochen, um zu seinem Bruder zu gehen. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte. Ich machte mir Sorgen um ihn. Ich hatte ein komisches Gefühl bei der Sache, denn sein Bruder führte bestimmt etwas im Schilde. Reine Intuition. Darauf vertraute ich.
Da ich leider nichts unternehmen konnte, würde ich wohl im Bett bleiben müssen. Und darauf hoffen, dass Kenai nicht ausgenutzt wurde. Das würde ich Akela sonst nie verzeihen, Bruder hin oder her.
Plötzlich wurde es merklich kühler im Zimmer und obwohl es unter der Decke recht warm war, fror ich, als stünde ich mitten in einem Schneesturm auf Fjerda. Vielleicht sollte ich mir ein Nachtkleid überziehen. Die Unterhose allein hielt mich nicht warm genug. Seufzend warf ich die Decke zurück, richtete mich auf und erstarrte. Meine Augen weiteten sich vor Schreck, mir blieb der spitze Schrei in der Kehle stecken. Ein Zittern durchlief meinen Körper, als ich direkt in das verhüllte Gesicht der schwebenden Gestalt vor mir blickte. Zwei dunkle Höhlen, die Augen sein sollten, starrten zurück. Ich zuckte zusammen, als sich die knorrigen Finger, die aus den zerfledderten Ärmeln des langen Umhangs lugten, in meine Richtung bewegten. >N-Nein... Geh weg... Geh weg.< hauchte ich von Angst erfüllt. Mein Körper wollte mir nicht gehorchen, ich wollte fliehen oder kämpfen, irgendetwas tun, doch nichts regte sich. Wie eine Puppe, unfähig selbst zu handeln, durfte ich bloß beobachten. Adrenalin rauschte in meinen Adern, doch auch das half nicht. Ich stand wie unter einem Bann. Das musste das Werk dieser Gestalt sein. Sie flüsterte dunkel, es war mehr ein Rauschen als klare, gesprochene Worte. Dennoch hatte ich das Gefühl, als wüsste ich, warum dieses Etwas hier war.
>B-B-Bitte nicht... Ich... Ich h-habe nichts getan. Ich, ich... nein... nicht, nicht berühren... n-nicht...< Letzteres kam als Hauch über meine Lippen, denn das Wesen war mir bereits nahe genug, dass ich das unkenntliche Gesicht unter der Kapuze sehen konnte. Der Anblick traf mich bis ins Mark. Tausende Gedanken und Empfindungen tobten wild in meinem Inneren. Es öffnete den Mund, ein schwarzer Schlund, der mich zu verschlucken drohte.
Das starke Ziehen in meinem Kopf weckte mich aus meiner Starre und ich schaffte es hastig vom Bett zu springen, direkt auf die Tür zu, hinter der ich Hilfe finden konnte. Irgendjemand musste mir doch helfen. Kenai. Kenai hatte letztes Mal dieses Ding vertrieben. Kenai! Ein Schluchzen baute sich in meiner Brust auf. Obwohl ich nicht schwach und mich ständig auf ihn stützen wollte, tat ich gerade genau das. Ich lief weg vor den Dingen, die mir das dritte Auge zeigte. Die Zwischenwelt machte mir Angst, große Angst. Das Wesen, das mir sogleich folgte, gehörte zu den schlimmsten Gestalten, denen ich bisher begegnet war und ich wollte einfach nur weg. Trotz der Kälte hinter mir drehte ich mich nicht um, sondern streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Es kam nicht dazu.
Das verhüllte Gesicht tauchte durch die Tür und direkt vor mir auf. Mein Mund öffnete sich zu einem Schrei, aber jeglicher Laut wurde vom Sog verschluckt, den dieses Ding auf mich ausübte. Reglos stand ich da, Augen weit aufgerissen und auf den Zehenspitzen balancierend. Es ließ mich nicht los, es holte sich das, wonach es verlangte. Erinnerungen an meine frühe Kindheit zogen vor meinem geistigen Auge vorbei, schöne Erinnerungen, viel Lachen und Freude, die funkelnden Augen meiner Eltern und meine ersten Schritte. Ein wundervoller Augenblick, ein unvergesslicher Moment.
Der starke Sog endete und mit einem dumpfen Gefühl im Kopf fiel ich bewusstlos zu Boden wie ein gesprengter Turm.
Silia
Ich spürte wie das Mondlicht in meinen Geist tauchte. Wie es mich von innen heraus ausfüllte und mir seine Energie gab. Es war zwar nicht mit dem Licht der Sonne zu vergleichen, doch manchmal bevorzugte ich das sanfte Mondlicht. Es überwältigte mich nicht. Es war wie eine zärtliche Umarmung. So wie die von Mama und Papa. Sie glaubten, ich sei ein Kind und wüsste nicht viel von der Welt, aber da irrten sie sich. Ich ließ sie glauben, ich sei noch ein Kind. Eines, das unbeschwert lachte und keine Ahnung davon hatte, was da draußen vor sich ging. Sie wussten auch nicht, dass ich im Geiste wesentlich älter als sie alle zusammen war. Dennoch... Die Art, wie sie mich empfangen und mit bedingungsloser Liebe behandelt hatten, ließ mich wünschen, ich könnte wirklich ein erfreutes Leben als Kind führen. Zen verstand das. Obwohl er sehr jung war, hatte ihn das Leben schwer gezeichnet. Er hatte früh erwachsen werden müssen, wählte allerdings den Weg eines Kindes, um die Freude nicht zu verlieren. Ich würde auf ihn aufpassen. Ich würde das Versprechen halten, das ich ihm gegeben hatte. So wie ich auch weiterhin die Rolle der süßen, kleinen Silia spielen würde. Die Menschen um mich herum trugen genügend Lasten mit sich herum. Sie lungerten als kleine Schatten in ihren Augen, die das Licht trübten. Erst wenn der richtige Zeitpunkt gekommen war, würde ich mein wahres Gesicht zeigen.