Enja

Es ärgerte mich leicht, dass er mich so leicht zu durchschauen schien. Dennoch konnte ich nicht verleugnen, dass er Recht hatte. Und das machte mich umso unruhiger. Wieso konnte er das? Wieso wusste er mehr über mich, als ich selbst? War ich innerhalb der letzten zwei Tage so nachlässig geworden? Mein Blick fiel auf das Buch in seiner Hand, ehe ich ihn wieder ansah. Ich stand ein paar Schritte hinter ihm. "Woher wollt Ihr wissen, dass ich das nicht tue?" Natürlich half diese Frage nicht, ihn von dem Gegenteil zu überzeugen. Das war eine zu überspitzte Reaktion, als dass es mir egal sein könnte.

Enja

Ehe ich ihm antworten konnte, hatte er sich auf das Bett gelegt und sagte, dass er ein Nickerchen machen wollte. Fassungslos sah ich ihn an, da er jetzt einfach schlafen wollte. Sollte ich besser gehen oder warten? Den Weg hatte ich auswendig gelernt, außer... außer den Tunnel unter der Erde. Dort waren meine Gedanken zwischenzeitlich so sehr durcheinander gewirbelt worden, dass ich mir einen Teil nicht gemerkt hatte. "Ich... warte dann hier", deutete ich mit dem Daumen unsicher hinter mich und drehte mich um. Meine Hände stemmte ich in die Hüfte. Hmm... was sollte ich tun?

Enja

"Okay, mache ich", sagte ich und nickte, was er jedoch nicht sehen konnte. Als ich herausfand, wo ich mich am besten hinsetzen konnte , gab ich mir Mühe, nicht über die Bücher zu stolpern. Dabei klirrte aber ein Schwert und entschuldigend hob ich die Hand. "Entschuldigung! Ich gehe... einfach herum", schoss es aus mir heraus. Leicht knabberte ich an meiner Unterlippe und ließ mich dann erleichtert an der Wand entlang fallen. Die erste fünf Minuten gingen gut, bis ich mich anfing, zu langweilen. Es war entspannend, aber noch zu ungewohnt für mich. Daher griff ich irgendwann nach einem Buch und begann zu lesen. Es war eine Geschichte über einen Helden, welcher sich in die Hexenwelt schlich, um den bösen König der Dunkelheit zu besiegen und seine Freundin zu retten. Ich las nicht oft, denn ich hatte keine Zeit dazu gehabt. Aber wenn ich es tat, dann tat ich es gerne. So vertiefte ich mich in das Buch und merkte nicht, dass ich die Geschichte bald bis zu einem Drittel gelesen hatte. "Oh", sagte ich und legte das Buch schließlich zur Seite. Leicht rieb ich mir die Augen, da es anstrengend gewesen war, nach so langer Zeit im Dunkeln zu lesen. Dann stand ich langsam auf und lief zu der Karte. Sie hatte am Anfang meine Aufmerksamkeit erregt, doch ich hatte Bryan nicht danach gefragt. Meine Finger legten sich nach kurzem Zögern auf das raue Papier, ehe ich einen Weg nachfuhr, der vom Schloss weg führte. Zum... Wald?

Enja

Gerade, als ich mir die anderen Wege ansah, hörte ich ein leises Murmeln, das von dem Bett kam. Bryan redete in seinem Schlaf. Er schien jedoch sehr unruhig zu werden und zögerlich trat ich an das Bett, um mich leicht über ihn zu beugen. Meinen Kopf drehte ich zur Seite, um ihn besser verstehe zu können. Roseline? Hatte er gerade einen Namen gesagt? Einen Mädchennamen, wie mich meine innere Stimme korrigierte. Seltsamer Weise versetzte mir das einen Strich. "Bryan, wacht auf. Es ist nur ein Traum, Ihr träumt gerade", vorsichtig rüttelte ich an seiner Schulter.

Enja

Obwohl ich mich nicht ernsthaft erschrak, zuckte ich dennoch zusammen. Er hielt meine Hand zu fest, als dass ich sie befreien könnte. "Bryan", versuchte ich es ein weiteres Mal vorsichtig, "Ihr träumt nur, Ihr seid in Sicherheit! Bitte wacht auf. Ich tue Euch nichts. Ihr... Ihr haltet meine Hand zu feste! Bitte!"

Enja

Es herrschte eine kurze Stille, in der wir uns beide ansahen, ehe ich leise ausatmete und mich wieder entspannte. "Beruhigt Euch, es kann Euch nichts passieren. Ihr hattet einen Alptraum", sagte ich sanfter als gewohnt und legte meine Hand auf seine, die immer noch verkrampft war, um sie leicht zu drücken. "Geht's?"

Enja

"Ihr müsst Euch dafür nicht entschuldigen", erwiderte ich beschwichtigend und schüttelte den Kopf. "Alpträume passieren jedem, Ihr könnt ja nichts dafür." Mein Blick fuhr über sein blasses Gesicht. "War es sehr schlimm?", hörte ich mich wie aus dem Off sagen.

Enja

Überrascht über seine plötzliche Kälte, brachte ich nur ein Nicken zustande und stand zu schnell auf. "Gut. Lasst uns gehen." Wieso klang meine Stimme so hohl? Ich schluckte. Nie konnte ich meinen Mund halten!

Enja

Dies kam mehr als unerwartet. Mein Blick erhellte sich. Perplex sah ich ihn an, ehe mein Blick zu dem Buch fiel, welches ich angefangen hatte, zu lesen. "Meint Ihr das ernst?", fragte ich und konnte meine leichte Aufregung nicht ganz verstecken.

Enja

Es stimmte, was er sagte - wieder einmal hatte er Recht. Einen Moment rang ich mit mir und wollte ablehnen, doch dann siegte meine heimliche Leidenschaft zum Lesen. "In Ordnung", nickte ich und lief nochmal in den hinteren Teil des Raumes, um das Buch aufzuheben. "Danke", sagte ich dann und schaute zu der Tür. "Wollen wir?"