Silia
Ich überprüfte ein letztes Mal mein Aussehen im Spiegel und befand das Ergebnis für hervorragend. Normalerweise war ich nie nervös, zumal ich des Öfteren schon vor mehreren Leuten gesungen hatte, doch heute... Heute fühlte sich das anders an. Heute sang und tanzte ich für Menschen, die mir sehr nahestanden und denen ich eine Freude bereiten wollte. Ich wollte all die schönen Herzenslichter zum Tanzen bringen. Zum Lachen. Ich wollte positive Energie ausstrahlen und alle damit anstecken. Ich wollte für heute vergessen, dass es immer noch Dinge gab, die uns belasteten und die uns weiterhin nicht loslassen würden. Heute war allerdings kein Platz mehr dafür. Mit diesem Gedanken verließ ich den privaten Raum, der unter der Bühne lag, und begegnete den anderen jungen Frauen, die mit mir singen und tanzen würden. Es war gar nicht so einfach gewesen, alles so schnell auf die Beine zu stellen, aber wenn man etwas aus tiefstem Herzen wollte, erreichte man es auch. Und ich war jeder Person dankbar für die Unterstützung und die Hingabe. In beiden Völkern schien der Respekt und die Liebe zu ihren Anführern groß zu sein. Sie hatten sich nicht quergestellt, sondern gleich mit angepackt und viele Ideen ausgetauscht. Das Kulturelle miteinander in Harmonie zu bringen, war uns allen dabei sehr wichtig gewesen. Ich war wirklich gespannt, wie das Publikum den großen Auftritt bewerten würde. Meine Geschwister ebenso. Sie waren ebenfalls Teil der Unterhaltung, zumal beide ein musikalisches Talent wie ich besaßen. Als ich in ihre vertrauten Gesichter blickte, dachte ich an all die schönen Momente zurück, in denen wir uns der Musik hingegeben und einfach gelebt hatten. Sorgenfrei, mit einem Lächeln auf den Lippen und einem freien Gefühl im Herzen.
Envar trat auf mich zu und fasste mich an den Oberarmen. Er musterte mich von Kopf bis Fuß, nickte wohlwollend. >Wir werden sie umhauen. Das beste Fest, das diese Welt je gesehen hat, weil wir endlich da sind.< grinste er breit und brachte mich damit zum Schmunzeln. Wenn es um Unterhaltung ging, prahlte er gerne davon.
Ich zwinkerte ihm zu und schaute anschließend zu unserer kleinen Schwester, die an ihrer Unterlippe knabberte, weil für ihren Geschmack zu viel auf einmal passierte. Sie war nervös. Große Auftritte lagen ihr nicht, aber ich glaubte fest an sie. Sobald sie ein Instrument in den Händen hielt, würde die Welt aufhören zu existieren und sie würde sich komplett in der Musik verlieren. So gut kannte ich sie. Ich machte mir keine Sorgen um Patzer. Sie war ein Naturtalent.
Kurze Zeit später tauchte Freesia auf, der man überhaupt nicht anmerkte, dass sie eine schreckliche Vergangenheit hinter sich hatte. Sie strahlte ein Selbstbewusstsein aus, das viele andere Frauen sofort in den Hintergrund rücken ließ. Allein an ihren Bewegungen erkannte man, dass sie sehr wohl wusste, was sie sich vom Leben erhoffte und sie nahm es sich einfach. Ich mochte sie. Sie war eine starke Frau. Genau wie meine Mutter, die da draußen gleich meinen Vater in einem traditionellen Harpyien-Ritual an sich binden würde. Ich verwettete mein Licht darauf, dass die beiden im Moment sehr nervös waren. Oder stark aufgeregt. So viele Menschen hatten sich hier versammelt, um dem Spektakel beizuwohnen, insbesondere nachdem Mama Numenor gefunden hatte. Die erste Insel der Harpyien. Ihre Urheimat. Ich war mächtig stolz auf sie und konnte es kaum erwarten nach draußen zu gehen.
Freesia klärte noch etwas mit den anderen Mädchen ab, dann wandte sie sich an uns. >Das Klavier steht bereit. Ihr könnt schon mal eure Plätze einnehmen und wir verkünden den Beginn des Rituals. Seid ihr bereit?<
Mehr bereit war unmöglich. Envar grinste noch breiter als zuvor, nickte und nahm Alita bei der Hand, da sie sich sonst zieren würde den hinteren Bereich der Bühne zu verlassen. Ich ging voraus, denn die Aufregung pulsierte durch meine Adern und machte mich dadurch schneller. Sobald ich die wenigen Stufen, die hinauf zur Bühne führten, erreichte, spürte ich das heftige Pochen in der Brust und staunte über die Massen an Menschen, die sich hier versammelt hatten. Atemberaubend. Wundervoll. Ich wusste gar nicht, wohin ich zuerst schauen sollte. Natürlich war mir vorher schon klar gewesen, dass das ein großes Fest werden würde, aber das hier... Das hier überstieg meine Vorstellung. All diese Leute zu sehen, wie sie sich angeregt miteinander unterhielten, wie einige von ihnen in unsere Richtung schielten, Kinder, die vor der Bühne herumtollten und von ihren Eltern gemäßigt wurden, bloß in niemandes Weg zu geraten... Es passierte so unfassbar viel, dass ich erst einmal tief Luft holen musste, um mich wieder in Bewegung zu setzen.
Erst als ich meine Eltern in der Menge fand, kehrte der Friede zurück. Das Glück, das die beiden ausstrahlte, erreichte und erfüllte mich. Meine Lippen verzogen sich zu einem warmen Lächeln, als ich in Position ging und kurz über die Schulter zu meinen Geschwistern blickte, um mich zu vergewissern, dass sie ebenfalls bereit waren. Beide nickten mir zu. Es konnte losgehen.
Ich wandte mich wieder der Menschenmenge zu und langsam wurde es leiser, auch wenn vereinzelte Stimmen an mein sensibles Gehör drangen. Meine Augen blieben an meinen Eltern haften, während sie sich ebenfalls in Position begaben. Eine sanfte Brise kam auf, strich um meinen Nacken entlang und wirbelte einige Haarsträhnen auf. Auch mein seidenes Tuch aus feinstem Chiffon in sonnenblumengelber Farbe bauschte sich leicht auf. Als wüsste der Wind, was jetzt folgte, begleitete er meinen Gesang. Ich legte in meine Stimme alles hinein, was dort hingehörte. Tiefe Zuneigung, bedingungslose Liebe, ein starker Wille, Vergebung, Schmerz und vor allem Hoffnung. Eine Hoffnung an ein besseres Morgen, solange die richtige Person nicht von der Seite wich. Ich erzählte vom täglichen Kampf. Von einem stetigen Auf und Ab, vom unbeugsamen Willen, den Kampf weiter auszutragen. Jedes Mal aufs Neue. Sogar Berge wichen von der Kraft der Liebe. Im Grunde genommen erzählte ich die Geschichte meiner Eltern, weshalb es mir nicht schwerfiel, voller Gefühl und Hingabe zu singen. Ich sang direkt aus meinem Herzen hinaus, trug die Botschaft weiter, während ich meine Eltern beobachtete. Ein wunderschöner Anblick. Einer, der sich für immer in mein Gedächtnis brennen würde.
Lied