Anderthalb Tage später...
Silia
Blinzelnd öffnete ich vorsichtig die Augen. Meine Lider fühlten sich unnatürlich schwer an. So als hätte ich sehr, sehr lange geschlafen und sie wären zusammen festgewachsen. Auch das Licht wirkte greller als sonst. Es blendete mich für einen kurzen Moment, ehe ich mich daran gewöhnte und die Augen weiter öffnen konnte. Der Geruch von Wald, Wiese und Blumen drang in meine Nase. Dazu eine starke Note Magie. Mir kam das alles sehr bekannt vor. Der gemütliche Platz, auf dem ich lag, das viele Blattwerk, die um mich gewundenen Zweige und das sanfte Pulsieren von Energie... Ich war Zuhause. Hier hatte ich zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt. Meiner Welt. Wie lange war es her? Wann war ich das letzte Mal hier gewesen? Ich besaß keine Erinnerung daran. Demnach musste mein letzter Besuch einige Jahrhunderte hinter mir liegen.
Ich richtete mich langsam auf, spürte, wie das Gefühl für meinen Körper zurückkam. Meine Finger, meine Handgelenke, meine Füße, mein Nacken, ich bewegte jedes Glied und zuckte dabei neugierig mit den Ohren. So viele Geräusche. So viel Leben um mich herum. Ich liebte es hier. Ein friedlicher Ort ohne Dunkelheit. Ohne Ängste. Ohne... Tod.
Natürlich hatte ich nicht vergessen, was passiert war und warum mich meine Geschwister hierher gebracht hatten. Der harte Kampf, der gewaltige Verlust an Herzenslichtern, das alles hatte mich ausgelaugt. Doch nun ging es mir wieder besser. Physisch, versteht sich. Der pochende Schmerz von Verlust war nach wie vor sehr präsent. Es schmerzte hinter meinem Brustbein, aber ich hatte mich damit abgefunden, dass Thales nun ein Teil von mir war. Er blieb an meiner Seite. Er wollte weiterkämpfen. Diesen Wunsch hatte ich ihm nicht verwehren können.
>Du bist wach, Schwesterherz. Das beruhigt mich.< erklang die sanfte, schnurrende Stimme meines Bruders. Envar blickte mich aus seinen warmen, türkisfarbenen Augen an. Er hatte sich Sorgen gemacht. Die tiefe Falte auf seiner Stirn verriet es mir. Mit einem leichtfüßigen Satz sprang er von einem Ast herunter und landete direkt vor mir. Der Geruch von Winter und Schnee überlagerte all die anderen Düfte. >Du warst eine Weile fort. Zwei Wochen.<
Ich riss erschrocken meine Augen auf. >Zwei Wochen!? A-aber was... wie... das, das kann doch nicht sein.< Hastig befreite ich mich von den Zweigen, um aufzustehen. Ich musste zu meiner Familie. Zu meinen Freunden. Zu Akela. O nein, Akela.
Envar klatschte mir mit der flachen Hand gegen die Stirn. >Mach mal langsam, halb so dramatisch. Du hast bloß anderthalb Tage geschlafen.<
Ich hielt inne. >Scherze? Wirklich?< funkelte ich ihn böse an.
>Über sowas scherzt man nicht.<
>Jaja, die Welt ist am Abgrund und plötzlich darf man seine Schwester nicht mehr aufziehen.< rollte er mit den Augen und reichte mir seine Hand, die ich schnaubend annahm. So gern ich seine lockere Art auch hatte, im Moment war mir nicht nach Scherzen zumute. Ich wollte einfach nur zu meiner Familie. Ich wollte sehen, wie es ihnen ging. Und was Akela betraf, hoffte ich, dass er nicht den Verstand verloren hatte. Dass er sich nicht zu stark um mich sorgte.
>Brechen wir gleich auf.< sagte ich fest entschlossen. Envar öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch da hatte ich bereits ein Portal erschaffen und ihn mit mir hineingezogen. Eine Sekunde später und mit wild klopfendem Herzen landeten wir vor der Höhle meiner Eltern. Die Leute waren noch hier, also hatte zum Glück kein Kampf mehr stattgefunden. Mir entwich ein erleichterter Seufzer.