Ardan
Nach dem sehr informationsreichen und aufregenden Ausflug in die Stadt Nordun war die Zeit im Reich Aradon ziemlich schnell vergangen. Zu schnell für meinen Geschmack. Ich verbrachte sehr viel Zeit mit Jadis, ihrem Bruder und Gilbert. Wir schienen so etwas wie Freunde geworden zu sein. Ich verstand mich ziemlich gut mit den beiden Jungs. Leora beteiligte sich auch oftmals an unseren alltäglichen Gesprächen, jedoch verschwand sie danach in ihren Gemächern. Das sah ihr nicht ähnlich. Bedrückte sie etwas? Bereitete ihr irgendetwas Stress? Unter normalen Umständen würde ich mich damit auseinandersetzen, allerdings herrschte in meinem Kopf totales Chaos, der Wirbel an Gefühlen, die mich jedes Mal erfassten, wenn ich an Jadis dachte, ließen keinen Platz für andere Dinge übrig. Ich war völlig vernarrt in Jadis. Ich sehnte mich mit jedem Tag nach mehr Zweisamkeit. Ich wollte sie küssen, so sehr, dass meine Lippen fast zu brennen anfingen. Noch hatte sich nicht der richtige Zeitpunkt ergeben, aber heute würde ich es wagen. Die Zeit lief mir davon. Ich konnte nicht ewig warten.
Deswegen kam mir das Versteckspielen gerade recht. Auch wenn mich mein Vater lieber köpfen würde, anstatt mich hierbei spielen zu lassen, so wusste ich, dass er strenge Verhandlungen mit dem König Aradons führte. Somit hatte ich genügend Zeit, mich mit den anderen zu amüsieren.
Jade erklärte mir den Ablauf des Spiels. Ich zog eine Braue in die Höhe. > Die Ehre, mich hier zum Idioten zu machen, während ich durch Gänge und Zimmer irre?<
Sein verdutzter Gesichtsausdruck entlockte mir ein schiefes Grinsen. >Na klar bin ich dabei!<
Er lachte und boxte mir in die Schulter. > Für einen kurzen Moment hätte ich dir den Spielverderber abgekauft.<
> Vielleicht sollte ich den Thron hinschmeißen und stattdessen Schauspieler werden. Macht jedenfalls mehr Spaß.< Hätte ich bloß die Wahl... Ich behielt das Grinsen bei, um meine trüben Gedanken zu verstecken und stemmte die Hände in die Hüften. > In Ordnung, dann lasst uns loslegen.<
Jenaya
Dank meinem Bruder konnte ich endlich die Schlossmauern verlassen und mehr Freiheit genießen, auch wenn das bedeutete, dass mich recht viele Leute eskortierten. Allen voran Kenai. Mit ihm an meiner Seite fürchtete ich mich sowieso vor niemandem, daher sog ich jeden Moment sorgenfrei in mich auf. Um in die Stadt zu gelangen, musste man erst die Tore zu den Halbmondbrücken öffnen, hinter denen uns die nächsten Tore erwarteten. Verzierte Säulen ragten in die Höhe, säumten den Weg und das Rauschen der Wasserfälle war noch lauter als innerhalb des Schlosses. Das Sonnenlicht, das durch die klare Oberfläche des Wassers reflektiert wurde, tauchte einige Stellen in ein bläuliches Schimmern. Ein faszinierender Anblick, an dem ich mich nicht sattsehen konnte.
Während ich sicher in der Kutsche saß, Kenai neben mir, meine Brüder uns gegenüber, starrte ich die ganze Zeit über aus dem Fenster. Ein breites Lächeln auf meinen Lippen. Vergessen waren all die bedrückenden Erlebnisse und Informationen, die ich noch verarbeiten musste. Doch hier und jetzt wollte ich unser Volk grüßen, es näher kennenlernen. Ich hatte in den letzten Jahren nicht oft das Vergnügen gehabt, mich unter die Leute zu mischen. Meine Brüder hingegen schon. Oftmals hatte ich mich gefragt, warum ich anders behandelt wurde, aber nach der Sache, die ich heute erfahren hatte, konnte ich das überbeschützerische Verhalten meiner Eltern leichter nachvollziehen. Dennoch... Sie sollten mich der Welt nicht vorenthalten. Ich wollte sie sehen. Ich wollte die Welt sehen, in denen die Geschichten spielten, die ich Kenai vorlas. Ich wollte meine eigene Geschichte schreiben, meine eigene Heldin sein. Herzen berühren, Leben verändern.
> Da ist jemand aber sehr glücklich.< neckte mich mein jüngerer Bruder. Er trug einfachere Kleidung, aber das tat seinem Prinzenauftreten keinen Abbruch. Wir alle strahlten Royalität aus, insbesondere ich, die in ein wirklich hübsches Kleid gesteckt worden war. Selbst ich musste das zugeben, die normalerweise sehr anspruchsvoll urteilte. Wenn ich tagtäglich in die verschiedensten Kleidungen schlüpfen musste, dann wollte ich wenigstens meinen Senf dazugeben.
Fünfzehn Minuten später passierten wir ein tränenförmiges Tor, an dessen spitz zulaufendes Ende blauschimmernde Ornamente eingraviert waren. Die alte Sprache. Leider konnte ich nicht die Bedeutung der Zeichen herauslesen, doch ich vergaß dieses Problem, sobald ich all die Menschen sah, die ihrer täglichen Arbeit nachgingen. Wärme stieg in mir auf. Aufregung mischte sich dazu. Ich war im pulsierenden Leben der Stadt angelangt. Na endlich.
Dieser Ausflug begeisterte mich so sehr, dass ich die nächsten Tage weitere kleine Touren unternehmen durfte, jedoch fielen sie nicht alle positiv aus. Das dritte Auge, das sich offenbar wie von selbst aktiviert hatte, ließ mich Dinge sehen, die mir manchmal große Angst bereiteten. Mutter erklärte mir, dass einiges davon verlorene Seelen waren, die mich nur um Hilfe bitten wollten. Sie alle suchten nach jemanden, der sie sehen, hören und fühlen konnte. Sie brauchten Hilfe, aber ich war nicht bereit, diese Aufgabe zu übernehmen und sollte mich zudem davon fernhalten, weil ich sonst Gefahr lief, in dieser anderen Welt verlorenzugehen. Oder ausgenutzt zu werden. Im Allgemeinen schien das dritte Auge mir mehr Probleme zu bereiten, als mir zu helfen. Ich mochte diesen Zustand nicht, vor allem das Schwächeln meines Körpers, sobald eine Vision zu lange andauerte.
Kenai sei Dank war das alles leichter zu ertragen. Er brauchte mich nämlich nur zu berühren und schon verblasste dieser eigenartige Schleier, hinter dem diese Figuren auf mich warteten. Dann kehrte ich in die Realität zurück, die mir eindeutig besser gefiel. Bis mein Vater mir gestern Abend vorm Schlafengehen auftrug, dass ich Kenai küssen musste, um ihn von der angesammelten Energie zu befreien. Ich verstand, dass er kein Gefäß war, das man unendlich lang befüllen konnte, irgendwann schwappte alles über, doch der Gedanke meine Lippen mit seinen zu verbinden... Nein. Nein, nein, nein. Das war viel zu... naja, viel zu... intim. Intim, genau. Ich war nicht bereit dazu. Kleiner Kuss hin oder her. Für ihn bedeutete das nichts, für mich jedoch schon.
Trotzig verschränkte ich die Arme vor der Brust und starrte auf die Klaviertasten vor mir. Madame Katrina versuchte schon seit einer halben Stunde, mir ein klassisches Stück beizubringen. Ohne mich. Ich protestierte. Ich wollte dieses Instrument nicht spielen. Wir harmonierten einfach nicht. Egal, wie viel Mühe ich mir gab, es funktionierte nicht. Ich tanzte lieber zur Musik. Tanzunterricht war besser.
> Junges Fräulein, es ist die Pflicht einer Prinzessin, mindestens ein Instrument zu beherrschen. Das ist Tradition.< tadelte mich die Madame.
Ich drehte undamenhaft den Kopf weg. Die Tradition konnte mir gestohlen bleiben, ich weigerte mich, meine Finger weiterhin dieser Tortur zu unterziehen. > Ich möchte lieber tanzen. Mein Körper ist mein Instrument, das verstehen Sie doch, oder nicht?<
Mir war klar, dass ich ziemlich frech sein konnte, aber die letzten Tage hatten mich einige Nerven gekostet. Außerdem war da immer noch der Kuss... Arrrgh, wie sollte ich das bitteschön anstellen?