Ardan
Schwer atmend rammte ich das Ende der Sense in den feuchten Boden. Leblose Körper lagen überall um mich herum. In allen möglichen Positionen, mit manchmal weniger Gliedmaßen als zuvor. Tote Augen blickten starr in die Richtung, in der ihr Geist den zerschundenen, verbrannten Körper verlassen hatte. Sie alle waren gefallen. Sie alle würden diesen Boden mit ihrem dunklen Blut tränken, bis nichts mehr in ihnen übrig war. Sie alle waren durch meine Hand gestorben. Durch mein Feuer. Durch meine Sense, an der so viel Blut klebte, dass das Silber der Klinge nicht mehr zu sehen war.
Graue Asche fiel in sanften Flocken vom Himmel herab. Bedeckten meinen Kopf, meine Schultern, Teile meines Oberkörpers. Sie blieben am halb getrockneten Blut haften. Blut, das nicht mir gehörte. Ich blutete nicht. Niemand hatte es geschafft, mich zum Bluten zu bringen. Sie waren nicht stark genug gewesen. Und doch fühlte ich mich, als hätten mich zentnerschwere Felsen wiederholt plattgemacht. Eine Schwere lag in meiner Brust, die mit nichts zu vergleichen war. Eine Leere, die sich Stück für Stück in mir ausbreitete, sich durch alles lebendige Fleisch fraß, das noch übrig war.
Langsam hob ich den Kopf. Streckte den Rücken durch. Die Rüstung klirrte, ich sank etwas tiefer in die vom Blut feuchte Erde und trat über einen zerteilten Körper hinweg. Ein Schritt, ein weiterer, dann der nächste. Weiter hinten befanden sich die Truppen, die ich angeführt hatte. Sie brüllten feierlich. Sie bejubelten unseren Sieg. Sie klopften sich auf die Schultern, wirkten erleichtert darüber, dass nicht sie diejenigen am Boden waren. Warum auch? Sie kämpften mit mir an ihrer Seite. Ich machte die ganze Arbeit. Ich hielt die stärksten Kämpfer des Feindes davon ab, sich an ihnen zu vergreifen. Ich war ihr Schwert und ihr Schild.
Das hast du gut gemacht, junger Phönix. Ich bin stolz auf dich. Diese dunkle Stimme... Sie begleitete mich seit dem Tod meines Vaters. Sie war nun ein Teil von mir. Ein Teil des Fluches, der auf mir lag. Ein sehr alter, schwerer Fluch, den ich nie loswerden würde. Ich hatte alles versucht, mich selbst auf jedwede Art und Weise umgebracht, jedoch ohne Erfolg. Sonst stünde ich nicht hier. Sonst würde ich nicht Truppen anführen, um die Liste meines Vaters abzuarbeiten. Die Liste, die er mir nach seinem Tod mit so vielen anderen schrecklichen Dingen hinterlassen hatte. Wenn ich das hinter mich brachte, wäre ich wenigstens frei von seinen letzten Wünschen. Deswegen war ich hier. Deswegen tat ich das alles. Ich bekämpfte meine Dämonen.
Und die Welt nannte mich den Ascheprinzen. Aber das würde sich ab heute Abend ändern. Ich würde König sein. König von Ignulae. Dann würden mich die Leute nur noch mehr fürchten. Was ich alles schon als Prinz erreicht hatte, würde nichts im Vergleich zu dem sein, was ich als König tun würde.
Ich würde der Welt da draußen lehren, dass sich mir niemand in den Weg stellen sollte. Dass es niemand wagen sollte, mein Volk zu bedrohen oder gar Hilfe anzufordern. Wir waren ein eigenständiges Reich. Ohne Ketten. Ohne Verpflichtungen anderen gegenüber, bis auf das Bündnis mit Titania und der Insel der Heißen Quellen. Dieser Bund würde weiterhin bestehen bleiben. Meine Mühe sollte nicht umsonst gewesen sein.
Die Trimagische Allianz war für die Ewigkeit.
Jenaya
Heute ist ein besonderer Tag. Endlich bin ich alt genug, einen Gefährten zu rufen. Ich bin sehr, sehr aufgeregt, denn ich habe absolut keine Ahnung, wer oder was mein Gefährte sein wird. Darüber hat man keine Macht. Der Gefährte wählt dich. Einen Favoriten habe ich auch nicht, obwohl Leylas Himmelseule wunderschön ist. Und wirklich schlau. Sie passt zu ihr, beides schlaue Köpfchen. Tiana hat ebenfalls schon ihren Gefährten rufen dürfen, immerhin sind beide älter als ich. Sie ist nun stolze Besitzerin eines Wildfangs. Ein atemberaubend schöner Hund in dunklen Waldfarben. Auf den ersten Blick hat er mir Angst gemacht, aber ich habe ihn liebgewonnen. Deshalb bin ich ja so gespannt, was für einen Gefährten ich haben werde. Mir ist es nicht wichtig, jemanden zu beeindrucken, solange ich mit einem treuen, liebevollen und vertrauenswürdigen Wesen zusammen bin. So wie Kenai, auch wenn "liebevoll" nicht unbedingt ein Adjektiv ist, das einem sofort in den Sinn kommt, wenn man ihn beschreiben müsste. Für mich allerdings ist er perfekt. Ich habe mich an all seine Eigenarten gewöhnt. Es gibt nichts und niemanden, dem ich mehr vertraue als ihm. Ich kann alles mit ihm teilen, deshalb fühle ich mich manchmal schlecht, hier in dieses Buch zu schreiben, von dem immer noch keiner Bescheid weiß. Das ist das einzige, wirklich das einzige Geheimnis, das ich sogar ihm verschweige. Ich weiß nicht warum...
Aber das ist nicht wichtig. Wichtig ist nur, dass er beim Ritual dabei ist. Seine Anwesenheit ist stets eine große Hilfe. Selbst bei all den Festen und Bällen, die hier und da stattfinden, halte ich nach ihm Ausschau und wenn ich ihn sehe, beruhige ich mich. Dann kommt alles zum Stillstand und ich kann kurz aufatmen. Leyla und Tiana wissen, dass Kenai mehr für mich ist als bloß ein Leibwächter. Er ist mehr als nur ein Anker. Ich wünschte, ich könnte ihm näherbringen, wie ich mich fühle, was es zu bedeuten hat, wie Menschen normalerweise reagieren, wenn jemand anderes ihnen ihre Liebe gesteht. Doch das ist zu früh. Ich bin zufrieden mit unserer jetzigen Situation. Wir erleben sehr viel. Er bringt mir sogar das Kämpfen bei. Nahkampf. Mehr hat mir mein Vater nicht erlaubt, aber das ist ein Anfang. Und irgendwann werde ich auch ein Schwert, eine Waffe in die Hand nehmen. Ich werde nicht brav auf meinem Platz im Thronsaal sitzen und bangen, ob meine Brüder zurückkehren werden oder nicht. Ich werde an der Front sein. Gemeinsam mit ihnen.
Durch das dritte Auge habe ich in den letzten Jahren viele schreckliche Dinge gesehen. Dinge, die man nicht vergessen kann. Die einen prägen. Die einen nachts nicht schlafen lassen. Trotzdem lerne ich besser damit umzugehen. Tag für Tag lerne ich stärker zu sein. Ich bin nicht mehr das schwache Mädchen von vor einigen Jahren. Ich bin stärker geworden.
Und heute werde ich mir einen Gefährten zulegen, durch den ich noch stärker werde. Ein Name wird mir auch noch einfallen...
Ich versah den Beitrag mit dem heutigen Datum und ließ das Erinnerungsbuch zurück in die Wand verschwinden. Da ich bereits fertig angezogen war, brauchte ich nur kurz die vordere Strähne meines Haares zu flechten und sie mit der blauen Schleife zu versehen. Sie war mir nach wie vor wichtig. Mutter würde sich freuen, sie an meinem Haar hängen zu sehen. Ein letztes Mal strich ich das seidenglatte, von kleinen Edelsteinen besetzte Kleid glatt, drehte mich einmal im Kreis und richtete den herzförmigen Ausschnitt. Perfekt. Kein Schmuck war erlaubt. Nur das Kleid an meinem Leib. Ich war bereit. Nervös. Aufgeregt. Mein Herz klopfte etwas wilder als sonst.
Fest entschlossen straffte ich die Schultern und trat hinaus auf den Flur. Die Zeit war gekommen.