Ardan
Soso, Akela gab Kenai Unterricht zum Thema Frauen. Ich hoffte, dass Kenai sich diese Worte zu Herzen nahm, denn frauenfeindlicher konnte man das Ganze wohl nicht ausschmücken. Entweder man hatte dem Piraten das Herz gebrochen oder er hatte sich das Frauenbild einfach so zum Spaß selbst in seine Schädeldecke tätowiert. Ich schielte zu Jadis. Wir beide wussten, dass eine gute Partnerschaft auf gleichem Fuße am besten funktionierte. Wer einen Fehler beging, entschuldigte sich und leistete Wiedergutmachung. So einfach war die Sache.
Der unwillkommene Gast verschwand mit seinem Anhänger, nachdem Kenai beschloss auf Jenaya zu warten, um die sogar ich mich Sorgen machte. Bislang hatte sie stets recht emotional reagiert, auf ihre niedliche Hasenweise, aber dieses Mal... dieses Mal war anders. Ich sah schwarze Wolken über Kenais Kopf aufziehen. Ihn erwartete sicherlich nichts Gutes, auch Yun prophezeite das. Wenn ich eines gelernt hatte, dann, dass man Frauen nie wirklich richtig einschätzen konnte. Vor allem, wenn man Mist gebaut hatte. Nichtsdestotrotz empfand ich Mitgefühl für Kenais Situation in diesem ganzen Drama. Damals war ich auch nicht perfekt gewesen. Ich hatte viele Fehler wegen meines Vaters begangen und ihn vollkommen verwirrt und ahnungslos vor uns stehen zu sehen, machte mich schwach. Jadis hatte mich tatsächlich weichgeklopft...
Schwer seufzend stand ich auf, umrundete den Tisch und legte ihm eine Hand auf die Schulter. >Ist schon in Ordnung. Fehler machen uns menschlich. Was wir aus den Fehlern machen, entscheidet über den Charakter. Du wolltest Jenaya an ihrem besonderen Tag beschützen, das verstehen wir, aber Lügen... Lügen sind wie Gift. So klein sie auch sein mögen, sie können sehr viel Schlechtes bewirken.< Ich zog seinen Stuhl hervor und bot ihm an sich hinzusetzen. Wie eine Statue auf der Stelle zu stehen, würde ihm sicherlich nicht weiterhelfen. Außerdem... Wer weiß, wie lange Jenaya fortbleiben wollte.
>In einer Beziehung läuft nicht alles immer rund. Man gerät aneinander, man teilt verschiedene Meinungen über etwas, man diskutiert... Das ist normal. Dein Bruder ist... nun ja, lassen wir das Thema erst einmal fallen.< Ich schaute zu Silia, die aufstand und zu Zen rüberging, um sich neben ihn zu setzen. Sie flüsterten miteinander. Ich sah kurz Jadis an, dann wieder Kenai. >Mach dir keine Sorgen. Es ist besser, wenn Jenaya sich die Zeit zum Nachdenken nimmt, anstatt aus verletzten Gefühlen zu sprechen. Dann läuft man Gefahr Dinge zu sagen, die man nicht so meint und das kann wiederum einen Streit noch schlimmer ausarten lassen. Du bist ihr wichtig genug, dass sie das eben nicht tun will, also warten wir hier einfach mit dir. In Ordnung?<
Jenaya
Mein letzter Beitrag ist eine Weile her. Liegt wohl daran, dass in den letzten Wochen sehr viel passiert ist und ich dieses Buch nicht mit mir herumtrage, weil es einfach zu wertvoll ist. Es macht mich auf eine Art und Weise verwundbar, dass wer auch immer es liest, alles über mich wissen wird. Alles. Kenai war die erste Person, der ich dieses Buch gezeigt hätte...irgendwann...aber nach dieser ernüchternden Wahrheit über den Abend unserer Verlobungsfeier weiß ich nicht mehr, ob ich dieses Buch nicht einfach verbrennen sollte. Sicher ist sicher. Ich fühle mich im Moment so extrem verwundbar, dass ich diese Vertrautheit der Bücher um mich herum nie wieder verlassen möchte. Ich will in diesem Raum, der nach altem Papier, rauem Holz und Staub riecht, für immer bleiben. Hier bin ich sicher. Hier verletzt mich niemand. Hier rammt mir keiner ein Messer in den Rücken. Hier drin kann ich bedingungslos vertrauen.
Im ersten Moment hat es mich schockiert, dass er mich angelogen hat. In der nächsten Sekunde habe ich diese Kurzschlussreaktion verstanden. Wir Menschen tun diese Dinge ziemlich oft. Wir wollen unsere Liebsten beschützen und lügen. Wir lügen, um sie zu beschützen. Wir wollen sie so lange wie möglich glücklich sehen. Ich verstehe das. Wahrscheinlich hätte ich an seiner Stelle dasselbe getan. Dennoch schmerzt es mich zu wissen, dass er in der Lage ist mir ins Gesicht zu lügen. Dass er mich berühren, mich küssen und mich lieben kann, während eine Lüge zwischen uns schwebt. Er hat mir nichts von seinem Bruder erzählt. Er hat zugelassen, dass dieser Mann ihn verletzt. Er hat zugelassen, dass er so mit mir spricht... Akela hat Kenai dazu gebracht mich anzulügen und ich weiß nicht einmal, ob er es mir überhaupt irgendwann verraten hätte. Diese Ungewissheit schürt die Angst in mir, diese Unsicherheit, die mich zerfrisst. Sobald Akela zur Sprache kommt, wird Kenai zu jemandem, den ich nicht kenne. Er ist mir fremd. Er handelt unüberlegt und stürzt sich kopfüber in diese Sache hinein, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, was das für Konsequenzen haben könnte. Ist es Naivität? Blinde Liebe zu einem Bruder? Hoffnung? Wo stehe ich bei dem Ganzen? Was soll ich davon halten? Rechtfertigt das sein Handeln? Er zieht sein eigenes Ding durch. Nach allem, was passiert ist, hört er einfach nicht hin. Ich könnte ihm so viele Worte an den Kopf schmeißen, toben, wüten, weinen, mein Herz aus der Brust reißen und ihm vor die Füße werfen... Er würde mir einfach seine Liebe beteuern und mir im nächsten Moment den Rücken zudrehen, wenn sein Bruder auftaucht. Das macht mir Angst. Er entgleitet mir. Ich hasse es.
Ich wünschte, er besäße die Fähigkeit der Empathie. Dann wüsste er, was in mir vorgeht. Er würde es besser verstehen, dann würde er vielleicht auch anders handeln. Manchmal ist es wirklich anstrengend ihm diese Dinge beizubringen und ruhig zu erklären, während man am liebsten an die Decke gehen möchte. Zehn Jahre. Mehr als zehn Jahre habe ich in unsere Beziehung investiert, ohne etwas zurückzuverlangen. Ich habe ihn unwiderruflich geliebt, für ihn gebetet, für ihn gebangt, für ihn geträumt, für ihn gelacht... Ich habe so viel für ihn getan...
.
.
Vielleicht ist es Zeit loszulassen. Vielleicht brauche ich ihm nicht mehr das Menschsein zu erklären. Vielleicht ist der Moment gekommen, ihn wie einen freien Vogel loszulassen und darauf zu hoffen, dass er wieder zurückkommt, weil er sich an das warme Zuhause erinnert, das ich ihm einst gab. Vielleicht kann er an meiner Seite nicht mehr wachsen. Vielleicht enge ich ihn in seiner Entwicklung ein. Ich weiß es nicht. Ich bin innerlich zerrissen. Ich verstehe das Ganze nicht. Ich verstehe nicht, wie er Akela so viel Macht geben kann und mich dabei irgendwie links liegen lässt. Ich verstehe nicht, was ihn dazu bringt, Akela blind zu folgen, ich..., ich... Ich verstehe Kenai nicht mehr. Mal ja, mal nein. Dieser ständige Wechsel zehrt an meiner Kraft. Ich bringe sie allmählich nicht mehr auf. Ich muss auch nach mir schauen, wenn es niemand anderes für mich tut. Ich muss selbst stärker werden, damit so etwas nicht passiert, während ich in einer märchenhaften Blase stecke. So sehr ich mich auch anstrenge, mein Leben ist kein Märchen. Wird es nie sein. Zeit, damit klarzukommen. Zeit, loszulassen.
Mit einem tiefen, schweren Atemzug klappte ich das Buch zu, legte die Schreibfeder beiseite und ließ den Blick umherschweifen. Ich fasste Buch für Buch ins Auge. So viele Bücher. So viele Geschichten. So viele Abenteuer, in denen ich schon immer Zuflucht gefunden hatte. Sie schenkten mir Geborgenheit. Ihre Worte drangen wie ein Flüstern zu mir und erinnerten mich an all das Gute, das selbst in den verlorensten Gegenden zu finden war. Ich saß einfach nur da. Ich lauschte der Stille. Ich lauschte dem ruhigen Pochen in meiner Brust und schloss die Augen. Ich gab mir selbst die Zeit, die ich sonst nie fand. Ich akzeptierte die Veränderungen. Ich akzeptierte, dass es Dinge gab, auf die ich scheinbar keinerlei Einfluss hatte. Ich akzeptierte meine Niederlage. Ich akzeptierte meine Macht- und Hilflosigkeit und die damit verbundene Unsicherheit sowie Angst. So war ich eben. Zart besaitet, hoffend, sensibel und verletzlich.
Aber hier und jetzt war ich bereit für ein Gespräch, dessen Ausgang ich nicht einschätzen konnte. Ich war bereit Stärke zu beweisen und diesmal würde ich niemand anderes als mich selbst beschützen.