Silia
Zwei Wochen ohne zufriedenstellende Ergebnisse machte fast jeden hier nervös. Die Menschen wussten nicht, ob sie sich darüber freuen sollten oder nicht. Es ging voran und doch irgendwie nicht. Wir hatten den Fuß der Gebirgskette erreicht. Das war schon mal ein gewaltiger Fortschritt. Von Feinden allerdings gab es keine Spur. Nicht einmal Alita hatte welche ausgemacht und ihr Sinnesradius reichte weiter als die uns zur Verfügung stehenden Mittel des Ausspähens. Mich zum Beispiel. Vorgestern hatte auch Envar uns einen Besuch abgestattet, eine äußerst willkommene Abwechslung zu der sonst öden Zeit und auch er hatte berichtet, dass sich in der anderen Gruppe nicht viel tat. Darum nutzten sie die kostbare Zeit zum Trainieren. Etwas, was wir auch tagtäglich taten. Man konnte nie vorsichtig genug sein.
Mein großer Bruder hatte sich kaum verändert. Er war dieselbe Frohnatur wie immer, mit purer Ehrlichkeit auf der Zunge und charmanten Witzen. Da er Männer den Frauen vorzog, hatte Thales einen ganz schön großen Schrecken gekriegt, als Envar Anstalten gemacht hatte ihn „ans andere Ufer zu holen“. Sein peinlich berührter Gesichtsausdruck entlockte mir auch heute noch ein Lächeln. Wenigstens hatte Envar die Finger von Sul Dubh gelassen, denn er hatte gleich gemerkt, dass es bei ihnen ganz anders ablief als bei uns. Mit Akela hatte ich die letzten Tage nicht viel gesprochen. Vielleicht, weil es nichts zu sagen gab oder aber, weil ich kein Risiko eingehen wollte mich noch mehr im Gefühlswirrwarr zu verlieren. Ich redete mir ein, dass es so besser war. Nach wie vor würde ich zwar meine schützende Hand über ihn halten und nur dabei blieb es. Keine weiteren Komplikationen. Allein der Gedanke daran, dass er nach wie vor an der Abmachung festhielt, stieß mich von ihm ab. Wenn ich daran dachte, fühlte es sich dann an, als würde man mich mit mehreren Kübeln voll mit eiskaltem Wasser bespritzen. Ernüchternd. Gemischt mit einer zu großen Portion Frust und Sehnsucht. Ein Herz ließ sich eben schwer kontrollieren. Ich verinnerlichte diese Lektion jeden einzelnen verdammten Tag.
Als mir ein tiefer Seufzer entfuhr, richtete Alita ihren musternden Blick auf mich und weg von der Karte, die Thales auf ihre Beschreibung hin zeichnete. Durch ihre besondere Gabe war es uns möglich, uns ein besseres Bild von der Landschaft hinter dem Totengebirge zu verschaffen. Durch mündliche Berichte wussten wir bereits von der Existenz einer Festung, in der ein Hohedämon hauste. Eine von vielen Festungen, die verteilt im verdorbenen Land des Dunklen Lords standen. Unsere Aufgabe war es, eine nach der anderen zu stürmen und zu besetzen. Wir würden ihm Stück für Stück das Land nehmen, uns strategisch bis zu ihm vorarbeiten. Das würde uns sicherlich Monate kosten, aber wir durften nicht zu überstürzt handeln. Ein Hohedämon nach dem anderen.
An was denkst du? Fen? Mal? Diesen Piraten? Seit sie ihn getroffen hatte, wusste sie, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte, aber sie neckte mich nicht deswegen. Sie sorgte sich um mich, weil sie mich und meine Sorgen kannte. Welche Ängste ich trug. Wie sehr mich der Kummer noch heute zerfraß. Sie war ziemlich überrascht gewesen, als ich ihr erzählte, Fen wäre nun ein Teil von Akela und sie freute sich irgendwie darüber, selbst wenn ich ihre Freude nicht ganz teilen konnte. Nicht sie war es, die er tot sehen wollte. Ich war die glückliche Auserwählte. Damals waren wir alle wie eine große Familie gewesen und heute... heute sah die Lage ganz anders aus.
>Ich denke darüber nach, wieso du nicht in das Schloss schauen kannst, wenn es doch auch aus Räumen besteht.< lenkte ich vom einzigen Thema ab, das ich gewiss nicht anschneiden wollte. Nicht in Anwesenheit der Männer. Besonders die von Akela war mir mehr als bewusst, doch ich wagte es nicht in seine Richtung zu blicken. Thales‘ Hand, die präzise zeichnete, war deshalb eine willkommene Ablenkung.
Alita verschränkte die Arme vor der Brust und ließ die Ohren hängen. Ihr passierte es selten, dass sie keinen Zugriff auf einen Raum hatte. Es frustrierte sie. Ich kannte das Gefühl so gut. Es ist eigenartig. Es ist, als würde sich die Festung vehement dagegen wehren, dass ich mir Zutritt verschaffe, aber das kann eigentlich nicht sein. Das würde nämlich bedeuten, dass das Gebäude irgendwie...lebendig ist. Halt mich für verrückt, aber in all unseren Jahren, die hinter uns liegen, wäre das keine so große Überraschung. Das ist der einzig plausible Grund, der mir spontan einfällt.
Ich verfiel ins Grübeln. Eine Festung, die am Leben war? Das war neu. Komisch, jedoch nicht abwegig. Vor allem dann nicht, wenn darin ein Hohedämon hauste. Vielleicht steckte er ja dahinter. Ich rief mir in Erinnerung, was Thales über ihn in Erfahrung gebracht hatte und bastelte an einer Idee, die ihm bestimmt nicht gefallen würde. Wie gut, dass meine Eltern nicht hier waren, denn sie würden mich allein für diesen Plan in ein Ei sperren und verschiffen lassen. Nichtsdestotrotz könnte das unsere einzige Chance sein, hinter die Mauern zu blicken und die Schwachpunkte herauszufinden. Das würde uns einen entscheidenden Vorteil liefern.
>Er ist ein Seminus-Dämon hast du gesagt?< fragte ich meinen Freund noch einmal, der sein seidig rotes Haar zu einem Zopf gebunden hatte. Er lehnte sich seufzend zurück und nickte. >Jap, einer von der ganz perversen Sorte. Er bekommt ständig Besuch von Frauen aus aller Welt. Unfreiwillig natürlich. Je exotischer die Ware, desto besser. Damit gehört er zu den Verantwortlichen für Sklavenhandel mit besonderem Augenmerk auf Frauen.<
>Exotisch wie ich?<
Nun hatte ich seine volle Aufmerksamkeit. Er zog eine rötliche Braue in die Höhe, öffnete den Mund, schloss ihn wieder und begann den Kopf langsam zu schütteln. >O nein. Das steht außer Frage. Du wirst ganz sicherlich nicht allein da reingehen und... und...< er machte kreisende Handbewegungen in meine Richtung, >...dich als Sklavin ausgeben. Außerdem funktioniert das sowieso nicht, weil nicht einmal ich in der Lage bin deine starke Animagi-Präsenz zu verschleiern. Man wird dich sofort erkennen. Ein Hohedämon wie er sowieso.<
>Das stimmt nicht. Ich besitze etwas, das meine Magie so weit aufnehmen kann, dass ich wie ein normaler Mensch wirke. Du müsstest nur meine tierischen Merkmale mit einem Zauber verbergen.< erwiderte ich in einem protestierenden Tonfall. Dabei verschränkte ich trotzig die Arme vor der Brust. Meine Idee war nicht blöd und auch nicht besonders gefährlich für mich, weil ich durchaus in der Lage war auf mich selbst aufzupassen. Perverser Dämon? Von mir aus. Ich hatte Schlimmeres erlebt.
Thales rollte mit den Augen und schaute zu Akela, den er jedes Mal mit einbezog, wenn es um die Planung unserer nächsten Schritte ging. Er grenzte Sul Dubh nicht aus und setzte damit ein Zeichen, dass er seine Worte von vor einer Woche ernst gemeint hatte. >Wir sind uns doch hoffentlich einig, dass sie mal wieder Schwachsinn redet und ihr Kopf zu viel in der Sonne gebadet hat.<
>Ich bin noch hier, du Idiot!< knurrte ich. Alitas Ohren zuckten unruhig, doch in ihren kupferfarbenen Augen las ich etwas anderes ab. Eine Idee. Eine Eingebung. Auch wenn ich teils dem König zustimme, ist dein Plan gar nicht mal so schlecht. Falls du es nämlich tatsächlich in die Festung schaffst, kann ich durch dich die Räumlichkeiten und ihre Lage besser beschreiben und in einem Notfall uns alle dort hineinschicken, um dir zu helfen. Unsere Verbindung kann nicht gebrochen werden. Lebendige Festung hin oder her.
Genau das wollte ich hören. Zuspruch. Mit hochgezogenen Brauen sah ich beide Männer an, genauer gesagt, Akela, denn auf seine Meinung war ich gespannt. Obwohl er nicht mehr den Eindruck machte, als würde meine bloße Existenz ihn nerven, wagte ich nicht zu glauben, dass er meinem Plan wie Thales vehement widersprechen würde. Was interessierte es ihn schon, ob ich mich als Sklavin ausgab und allein dort hineinging? Er selbst wählte dunkle Wege, darum gratulierte ich mir gedanklich selbst schon für die gute Idee.
ui, auf der vorherigen Seite sind auch noch Beiträge XD