Alita
Ich stutzte, als der Pirat aus der Haut fuhr und dann plötzlich davonrauschte. Was für eine Abmachung? Wieso wollte er sein eigenes Leben beenden? Und was hatte meine Schwester damit zu tun? Mein Blick fiel auf Silia, als könnte sie mir gleich diese Fragen beantworten, doch im Moment war sie dazu nicht in der Lage. Warum dieser Mensch vor seiner eigenen Wahrheit floh, verstand ich nicht. Die Wahrheit holte einen immer ein. Mal zu früh, mal zu spät. In seinem Fall befürchtete ich, dass er bis zum Ende verloren bleiben würde.
Jetzt verstand ich auch, warum meine Schwester so verzweifelt wirkte, wenn es um ihn ging. Sie hatte zwar sein Herzenslicht gerettet, aber dieser Mensch hielt an seiner Dunkelheit fest, weil sie scheinbar das Einzige war, was sich kontrollieren ließ. Alles, was darüber hinaus existierte, machte ihm wohl Angst. Warum musste Suryaka bloß immer ihr Herz an die Männer verlieren, die sie letztendlich nicht greifen konnte? Damals hatte sie sich vor Malevors Macht gefürchtet, er war ihr natürlicher Feind gewesen und dennoch hatte sie sich trotz ihrer Angst in ihn verliebt. Nun liebte sie einen Menschen, der lieber davonlief, als sich dieser Liebe zu stellen. Kompliziert... Darum machten Menschen alles so unfassbar kompliziert.
Ich rutschte etwas näher zu meiner Schwester und begann ihr sanft über den Kopf zu streicheln. Was auch immer auf uns zukam, ich würde sie davor bewahren, wieder in tiefem Kummer zu versinken. Diesmal war sie nicht allein auf sich gestellt. Sie hatte ihre Familie und menschliche Freunde gefunden. Auf uns alle war Verlass.
Silia
Jedes Mal, wenn ich aus diesem Zustand zurück in die Realität kehrte, fühlte es sich an, als würde ich nach Monaten wieder zu Atem kommen. Ich durchbrach die Barriere, die mich beschützt hatte und blinzelte mehrmals, damit die Farben und das Licht zurück in meine Augen kehrten. Noch bevor ich mich aufrichten konnte, schob sich ein Gesicht vor meines und ich erkannte meine jüngere Schwester an ihrem hellrosa Haar. Ihre Ohren zuckten. Sie schien sich zu freuen.
>Wie lange war ich weg?< murmelte ich, während auch meine Stimme an mehr Kraft gewann. Wärme flutete mich. Die Energie kehrte zurück und belebte meinen ganzen Körper. Ich fühlte mich deutlich besser. Auch seelisch ging es mir einigermaßen besser, auch wenn mein Herz wie ein verwundetes Tier am Boden lag und vor sich hin lebte. Alita runzelte die Stirn, dann hörte ich ihre helle Stimme in meinem Kopf. Viele, viele Stunden. Jetzt ist es nach Mittag. Das Essen hast du verpasst. Soll ich dir trotzdem etwas bringen?
Ich schüttelte den Kopf. >Nein, schon gut. Ich möchte raus in die Sonne.< Dass es sogar an einem Ort wie diesem Sonnenschein gab, zeigte, dass das Licht immer einen Weg fand in die Dunkelheit einzudringen. Wir hatten gestern Nacht einen bedeutenden Sieg errungen und auch wenn es mir viel abverlangt hatte, freute ich mich darüber. Ein Hohedämon weniger. Eine Sorge weniger. Man musste die Dinge eben positiv sehen.
Als ich mich aufrichtete, bemerkte ich, dass mein Haar sich seltsam schwer anfühlte. Ich sah an mir hinab und zog eine Braue in die Höhe. >Hast du sie mir geflochten?< fragte ich meine Schwester, die leicht errötete und mehrmals nickte. Ich fuhr mit den Fingern sanft über die schönen Blüten, lächelte dankbar. Das sah wirklich sehr hübsch aus. Sie hatte offenbar die ganze Zeit über mich gewacht. Dafür war ich ihr noch dankbarer als für die geflochtenen Zöpfe. Besser gelaunt warf ich sie mir über die Schultern und trat hinaus ins Freie. Es überraschte mich, zwei Wachen dort stehen zu sehen. Als sie mich bemerkten, machten sie große Augen und traten respektvoll zur Seite. Sie neigten den Kopf. >Fräulein Silia, es freut uns, dass es Euch wieder besser geht. Wir haben uns Sorgen um Euer Wohlergehen gemacht.<
Aus ihnen sprach Ehrlichkeit. Sie sagten das nicht nur aus Höflichkeit. Ich lächelte beide Männer an. >Keine Sorge. Es braucht schon mehr, um mich für lange Zeit vom Kampffeld zu vertreiben. Ich danke euch für euren Schutz. Das bedeutet mir sehr viel.< Einer von ihnen wurde rot und wagte es nicht, mir direkt in die Augen zu sehen. Schüchtern also. Wie süß.
Schmunzelnd und mit Alita an meiner Seite spazierte ich einen Pfad entlang, der zur Mitte des Lagers führte. Dort hatte ich nämlich schon von Weitem einen Rotkopf entdeckt. Thales gestikulierte wild mit den Armen, während seine Generäle konzentriert dreinblickend um ihn herumstanden. Es überraschte mich nicht, dass ich sofort nach Akela Ausschau hielt, doch er war nicht da. Mir wurde es schwer ums Herz, denn ich fragte mich, ob er überhaupt mitbekommen hatte, dass ich eine Weile lang verschwunden war. Wahrscheinlich nicht. Keine Sonnenfüchsin, die ihn ungefragt betatschte und ihm gegen seinen Willen helfen wollte. Ein trockenes Lächeln huschte über mein Gesicht. Nach meiner schrecklichen Erfahrung mit dem Hohedämon hatte ich meine Lektion gelernt. Manche Dinge ließen sich eben nicht ändern.
O, bevor ich es vergesse... Der Pirat hat eure Abmachung aufgelöst. Er wird einen anderen Weg finden, sein Leben zu beenden. Er war kurz da, als du geschlafen hast, ist aber sofort wieder verschwunden, als ich ihn mit seinen Gefühlen konfrontiert habe.
Ich stolperte und fiel beinahe hin. Peinlich, aber nicht verwunderlich, weil diese Worte mich kurz aus dem Konzept gebracht hatten. Akela hatte mich also doch besucht? Und die Abmachung für nichtig erklärt? Wieso denn das? >Was hast du ihm gesagt?<
Dass er dir einfach sagen soll, dass er dich mag. Aber aus einem unerfindlichen Grund hat er angenommen, dass ich lüge und dass wir nur sein endgültiges Verschwinden herbeisehnen. Ein ziemlich dummer Mensch, wenn du mich fragst. Ich verstehe nicht, wie man sich ständig im Kreis drehen kann, ohne dass einem schwindlig wird...
Mein Blick wurde trüb, als ich das hörte. So war das also. Er glaubte nach wie vor nicht an das Gute in anderen. >Sein Selbsthass steht ihm im Weg.< flüsterte ich und setzte meinen Weg fort. Was half es schon, diesen Kerl aufzusuchen und vom Gegenteil zu überzeugen? Er würde sowieso nicht zuhören. Er nannte mich nicht einmal beim Namen, da erhoffte ich mir einfach nicht mehr viel. Eigentlich erhoffte ich mir gar nichts mehr. Wahrscheinlich hatte er mich nur besucht, damit wir quitt waren. Ich hatte ihn von seinen Schmerzen befreit, er leistete mir etwas Gesellschaft. Mehr lief da nicht. Das sah ich jetzt ein.
Bevor ich die aufgeregt plappernde Gruppe erreichte, hielt mich meine Schwester am Handgelenk fest und zwang mich dazu, in ihre funkelnden kupferfarbenen Augen zu sehen. Sie wirkte sehr ernst. Fest entschlossen. Ich sorge dafür, dass wenigstens einer deiner Wünsche erfüllt wird. Wenn du schon diese eine Sache nicht haben kannst, dann werden Envar und ich einen Weg finden, wie du diese Welt bereisen und mit deinem Gesang verzaubern kannst. Du hast das mehr als verdient, Schwesterherz. Und manche Menschen hier... Sie schaute zur Gruppe hin, zu Thales wohlgemerkt und lächelte. Sie wollen stärker werden, damit du nicht so viel Gewicht mit dir herumtragen musst. Du darfst nicht vergessen, dass Herzenslichter immer ihren Weg zu dir finden werden. Sie sind für dich da und leuchten für dich.
Ihre schönen Worte trieben mir Tränen in die Augen, doch ich schluckte sie schnell hinunter. Ich wusste es wirklich zu schätzen, dass sie mit dieser Leidenschaft für mein Wohl sorgen wollte. Da fühlte sich mein Herz nicht mehr so verwundbar wie zuvor. >Danke, Alita. Ich hab dich unglaublich lieb.< sagte ich sanft und beugte mich vor, um sie fest zu drücken. Sie roch nach endloser Wiese und Zuhause.
>Sonnenschein! Da bist du endlich! Dein Schönheitsschlaf hat aber lange gedauert!< rief Thales mir zu und winkte uns breit grinsend zu sich. Auch die anderen Männer der Runde blickten zu mir und wirkten erleichtert mich wohlbehalten zu sehen. Ich spürte, wie sich der leere Teil meines Herzens mit einer anderen Form von Liebe füllte. >Da will man einmal einen gesunden Schlaf genießen und schon vermisst ihr mich.< lachte ich heiter auf.