Silia
Ich war die Erste, die fertig wurde. Das war zwar kein Wettbewerb, aber wenn es ums Essen ging, gab es kein Halten für mich. Ich erinnerte mich nicht daran, wann ich das letzte Mal etwas zu mir genommen hatte, darum war mein Hunger größer als üblich ausgefallen. Zum Glück hatte man für unsere Gruppe ein üppiges Mahl vorbereitet, denn nun lehnte ich mich satt im Stuhl zurück und nippte zufrieden am Wein. Damals, in meinem letzten Leben, hatten meine Geschwister und ich des Öfteren guten, köstlichen Wein genossen. Dieser hier schmeckte vorzüglich. Ich sah die Zufriedenheit auch in den Augen meiner Geschwister aufblitzen.
>Wenn ihr mich entschuldigt, ich habe noch einige Lieder zu schreiben.< sagte ich eine Weile später, als jeder seine Mahlzeit beendet hatte. Zen tätschelte sich neben mir den vollen Bauch und sah zu mir auf, als ich ihm einen Kuss auf die Stirn gab. >Wir sehen uns morgen früh.<
>Singst du mir die Lieder vor, wenn sie fertig sind?<
Ich zwinkerte ihm zu. >Na klar... wenn du sie magst, dann erst recht unsere Eltern.<
Er hob einverstanden den Daumen und blieb sitzen, während ich zu unserem Vater ging, dem ich einen Wangenkuss gab. Ich umarmte ihn von der Seite, lächelte. >Die Hochzeit wird ein Traum, da bin ich mir ganz sicher.< Manchmal hatte er ziemlich nachdenklich gewirkt und da ich ihn mittlerweile sehr gut einschätzen konnte, musste es wohl daran liegen, dass er sich mal wieder über etwas Sorgen machte. In diesem Fall die Hochzeit. Was auch immer kommen mochte, ich würde dafür sorgen, dass es keine Auswirkung auf das große Fest hatte. Es war ein besonderer Tag für meine Eltern. Niemand würde das zerstören. Absolut niemand. Nicht einmal das Wetter selbst.
Er drückte mir ebenfalls einen Kuss auf die Wange und seine Augen funkelten liebevoll. >Danke Silia, übernimm dich aber nicht. Du sollst auch ausgeruht sein.<
>Keine Sorge, ich kenne meine Grenzen.< versicherte ich ihm und wünschte dem Rest eine Gute Nacht. Mutter war leider nicht hier, aber sie hatte sicherlich einiges zu erledigen in ihrer Heimat. Den ganzen Tag über hatte sie wie die Sonne selbst gestrahlt und das zu sehen, hatte mich selbst von innen heraus erleuchtet.
Mit einem dauerhaften Lächeln auf den Lippen begab ich mich in mein privates Gemach und zog zuerst meine Klamotten aus, da ich sie schon eine Weile lang trug. Ich legte sie sorgfältig gefaltet auf die Kleidertruhe vor dem Bett ab und schlüpfte daraufhin in ein sandfarbenes Nachtkleid, das mir bis zu den Knien reichte. Ich mochte den Stoff auf Anhieb. Er schmiegte sich sanft an meine Haut und passte sich meinen Bewegungen an.
Als ich zum Schreibtisch ging, um Papier und Schreibfeder in die Hand zu nehmen, öffnete ich mein Haar und ließ es offen über meinen Rücken fallen. In Gedanken war ich bereits zu den Melodien gereist, die ich seit dem Abendmahl dauernd hörte. Leise summend schrieb ich die dazu passenden Noten nieder, probierte hier und da kleine Änderungen aus, sang sie leise nach und führte dann weitere Änderungen durch. Lieder zu schreiben, war ein langer, kreativer Prozess, dem ich mich schon lange nicht mehr gewidmet hatte. All die Lieder, die ich bisher gesungen hatte, waren Lieder der Vergangenheit. Die ich seit geraumer Zeit kannte. Das hier... das war neu. Ich musste ganz von vorne beginnen und mich der Musik gänzlich hingeben. Musste auf mein Herz hören, das die Melodien erschuf. Mehrmals setzte ich mich im Zimmer um, nahm verschiedene Positionen ein, weil mir das irgendwie beim Denken half. Die Hälfte des Liedes stand schon mal fest, aber der Rest... ja, am Rest musste ich noch arbeiten. Mir fehlten die richtigen Worte.
Ich stellte die Gitarre, die ich zuvor herbeigezaubert hatte, neben dem Bett ab und setzte mich im Schneidersitz auf die weiche Matratze. Zu lange an einer Sache zu arbeiten, konnte Blockaden auslösen, darum gönnte ich mir eine kreative Pause. Ich hatte nach der Münze gegriffen, die auf dem Nachttisch lag und drehte sie zwischen meinen Fingern. Darin war Akelas Energie gespeichert. Seine persönliche dunkle Note. Ich musterte die Münze genauer, fuhr die Konturen nach, dachte an ihn und an den Kuss, der die wildesten Emotionen in mir ausgelöst hatte. Mein Versprechen an ihn hallte mir dabei in Gedanken nach.
Mit schnell klopfendem Herzen umschloss ich sie mit der Faust und nahm einen tiefen Atemzug. Die Verbindung zu ihm wurde deutlicher vor meinem inneren Auge. Sie summte leise. Es fühlte sich an, als stünde ich direkt neben Akela... Du darfst jetzt kommen, wenn du möchtest. Hier ist es später Abend, darum wird niemand anderes mein Zimmer betreten. Mehr sagte ich nicht. Ich wollte meine Aufregung nicht durchklingen lassen, sonst könnte die Nachricht peinlich enden. Das wollte ich tunlichst vermeiden. Wann und ob er kommen würde, konnte ich zudem nicht vorausahnen. Er war mir noch in vielen Dingen ein Rätsel.
Den Gedanken an ihn beiseite schiebend, legte ich die Münze zurück an ihren Platz und griff stattdessen nach einem Kamm, um mich meiner Haar- und Fellpflege zu widmen. Das gehörte eben zu meiner täglichen Routine dazu.