Cael
Nach weiteren fünf Minuten ließ ich von ihren Waden ab und beugte mich zu ihren Lippen vor. Ein sanfter Kuss, mehr nicht. Dann deckte ich sie bis auf Brusthöhe zu und entfernte mich so leise wie möglich vom Bett. Obwohl ich weiter im Buch blättern sollte, wusste ich, dass ich dafür nicht genügend Konzentration besaß. Ich brauchte Ablenkung. Am besten eine körperliche Beschäftigung, um den aufgestauten Stress loszuwerden. Eine Runde an der frischen Luft zu laufen, wäre ideal, aber ich würde Ilea auf keinen Fall alleine lassen. Ich musste mir etwas anderes einfallen lassen. Es gab genügend Übungen, die man in den eigenen vier Wänden machen konnte.
Mein Blick fiel auf die Tür zum Bad, genauer gesagt auf den Rahmen, der Platz für einen sicheren Griff bot. Während ich darauf zuging, zog ich mein Oberteil aus und ließ es auf eines der Sitzkissen fallen. Anschließend klammerten sich meine Finger am steinernen Rahmen. Ich übte etwas Druck aus, testete, ob ich mein Gewicht stemmen konnte und gab einen zufriedenen Laut von mir. Dann begann ich mit einer Einheit aus zwanzig Klimmzügen, kurze Pause, eine weitere Einheit, wieder eine kurze Pause, mehr Klimmzüge, mehr Hitze, mehr Brennen in den Muskeln, bis meine Gedanken sich nur ums Zählen drehten.
Imesha
>Geh ruhig vor, ich komme zurecht.< erwiderte ich sofort, bevor ich zu lange darüber nachdachte und mich aus reinem Egoismus umentschied. Aus eigener Erfahrung wusste ich, wie wichtig Momente für einen selbst waren. Besonders nach einem Erlebnis wie diesem. Ich erwischte mich wieder bei dem Wunsch ihm einen Teil der Last abzunehmen, aber da ich die Last selbst nicht kannte, konnte ich meine Hilfe nicht anbieten. Nach allem, was Ryu für mich getan hatte, wollte ich mein Bestmöglichstes tun und dafür sorgen, dass er sich auf mich verlassen und stützen konnte. Deshalb wartete ich geduldig, bis er abhob und sich von uns entfernte, ehe ich einen tiefen Seufzer von mir gab.
Amara lächelte mich an. >Du bist deiner Mutter sehr ähnlich. Sie hätte genauso dreingeblickt wie du jetzt.< Bei der Erwähnung meiner Mutter horchte ich auf und sah die Frau vor mir mit angehaltenem Atem an. Lauter Fragen brannten auf meiner Zunge, doch ich schluckte sie gewaltsam hinunter. Nicht heute, nicht hier.
>In Situationen wie diesen fühle ich mich machtlos. Damit komme ich schlecht zurecht.< gestand ich leise, was ihr ein kleines Lachen entlockte. >So empfinden die meisten. Das ist völlig normal. Wenn du möchtest, kannst du mich bis zum Tempel begleiten und mit mir über alles Mögliche reden. Oder wir schweigen. Im Schweigen bin ich auch gut.<
Ein Friedensangebot. Ein gutes noch dazu. Auf dem Weg zurück zum Turm würde ich mir nur meinen Kopf zerbrechen und mich verrückt machen, da war mir eine Ablenkung wie Amara nur recht. >Einvernehmliches Schweigen klingt gut.<