Cael
Da! Schon wieder. Diesmal war es keine Einbildung, sondern ein eindeutiges Warnsignal. Bevor ich einen klaren Gedanken fassen konnte, stürzte ich in den Flur hinaus, die Treppen runter und drückte die Tür dermaßen kräftig auf, dass sie beinahe aus den Angeln flog. Mir war es egal, dass ich in den Hausschuhen durch teilweise kniehohen Schnee rannte. Wenn es um die Menschen ging, die mir viel bedeuteten, würde ich sogar nackt durch Wind und Wetter rennen, solange ich rechtzeitig bei ihnen ankam. Ivoli hatte mir nicht aus Spaß dieses Signal geschickt. Ilea schwebte in Gefahr und es gab nichts anderes, was gerade Priorität hatte.
Wie ein Wahnsinniger eilte ich auf das Stadttor zu. Nur in dünnem Oberteil und locker sitzender Hose. Die Kälte biss sich an mir fest, aber ich drängte dieses Empfinden zurück und beschleunigte mein Tempo. Hier und da rutschte ich beinahe aus, weil der Boden zu uneben und glatt war, doch auch das hinderte mich nicht daran der Spur meines Gefährten zu folgen, die in das Viertel führte, wo nur seltsame Gestalten verkehrten. Hier war der Anteil der verlorenen Seelen besonders hoch, was meine Angst um Ilea weiter verstärkte. Yokai? Ein Überfall? Die schlimmsten Szenarien spielten sich im Schnelldurchlauf in meinem Kopf ab, bis ich endlich Ivolis vertraute Gestalt entdeckte. Die Knospe an seinem Schwanz flackerte unruhig. Er verschwand daraufhin in eine Seitengasse, ich folgte ihm und hielt abrupt inne. Ich registrierte Ilea mit zerzausten Kleidern vor einer Mauer stehend, Panik in ihrem Blick und einen fremden Mann, der die Kleidung eines Wachen trug und sich ihr bedrohlich näherte. Ab da sah ich nur Rot. Blinde Wut erfasste mich, wild und tobend wie ich sie nie zuvor erlebt hatte. Meine Kampfinstinkte übernahmen die Kontrolle. Ich ließ keine Sekunde verstreichen, da raste ich bereits auf den Kerl zu, der sich alarmiert zu mir drehte, jedoch eine gehörige Portion Schnee ins Gesicht geschleudert bekam, sodass er kurz die Orientierung verlor. Diesen unbedachten Moment nutzte ich, um ihm meine Faust mit voller Wucht zwischen die Rippen zu rammen, wodurch er keuchend nach vorne klappte und ich ihn in die Mangel nehmen konnte. Seinen Hals zwischen Elle und Oberarm eingeklemmt, drückte ich ihm prompt die Luft ab und spielte mit dem gefährlichen Gedanken ihn hier und jetzt zu erledigen. Es widersprach all meinen Prinzipien, aber ein Mann wie er... Er hatte sich an Ilea vergreifen wollen. Sie war bestimmt nicht das erste Opfer. Er hatte sicherlich vielen Frauen geschadet, ihnen unwiderruflichen Schaden zugefügt. Der Mann versuchte sich zappelnd aus meinem Griff zu lösen, japste nach Luft, wurde rot im Gesicht, während ich kein bisschen lockerließ. Diese unbändige Wut auf dieses elendige Stück Mensch setzte meine Vernunft aus, bis Ivoli in meinem Blickfeld erschien und mich regelrecht anschrie.
Schweratmend und wie vom Blitz getroffen, ließ ich von dem Mann ab, der bewusstlos zu Boden fiel. Ich stolperte ein paar Schritte zurück, spürte mein Herz wild in der Brust pochen. Meine Hand zitterte, weil mir allmählich bewusst wurde, was ich beinahe getan hätte. Aus Wut. Aus Rache. Für Ilea. Ilea... Mein Kopf ruckte nach oben und mein Blick fand den ihren. >Hat er dich... dich verletzt?<
Imesha
Nach ein paar Stunden fand der Schichtwechsel statt. Mina übernahm die restliche Tageszeit, sodass ich wieder in mein Zimmer verschwinden konnte, um kurz zur Ruhe zu kommen. Das tat ich mit einer Tasse Tee mit Blick auf den kleinen Garten im Innenhof. Ohne meine tägliche Dosis ruhiger Meditation würde ich den Abend sonst nicht überstehen. Ich dachte an all die Fremden, an ihre Blicke, an Kaiser Oda... Nichts wäre mir lieber als draußen in der Freiheit zu tanzen, weil ich dann das Gefühl hatte, als könnte ich jederzeit das Weite suchen. Eingesperrt in einem Raum, während alle Augen auf mir lagen und sich die Leute die verschiedensten Dinge vorstellten, besonders Männer... nein... das mochte ich ganz und gar nicht. Mina vielleicht, ich hingegen nicht.
Meine Gedanken wanderten zu Ryu. An unsere kurze Begegnung heute Morgen und zur Mittagszeit. Aus ihm wurde ich leider nicht schlau. Ich wusste nicht, ob er wie die anderen Männer war, aber das würde sich mit der Zeit zeigen.