Cael
Ich war dermaßen erstaunt über diesen unerwarteten Fund, dass ich die ersten Worte mehrmals lesen musste, um sie zu verstehen: Die Reise eines Wanderers. Sehr anonym, gleichzeitig Neugier erweckend. Mehr stand auf der Vorderseite nicht, also schlug ich die nächste Seite auf und hoffte, dass mich meine Sprachkenntnisse nicht im Stich ließen. Es war eine Weile her, dass ich in der alten Sprache etwas gelesen hatte. Auf diese Buchstaben zu starren, weckte ein nostalgisches Gefühl in mir.
Ich konzentrierte mich auf den ersten Eintrag, der leider nicht datiert war, sondern gleich mit einer Beschreibung des Wetters begann. Sonnig, mit wenigen Wolken, eine frische Sommerbrise, die den Duft von Wildblumen trug und das entfernte Geräusch von Flügelschlägen. Kein spektakulärer Einstieg, um ehrlich zu sein, aber ich las trotzdem weiter. Wort für Wort.
Es ist ein Tag wie jeder andere. Trotzdem liegt etwas in der Luft, das nur wenige spüren können. Seit einiger Zeit höre ich dieses Flüstern in den Schatten der Nacht und in den schmalen Straßen in jedem Dorf, das ich auf meiner langen Reise passiere. Kaum einer ahnt, welche Gefahr sich zusammenbraut. Wie ein Gewitter, das Sturmfluten auslöst. Ich rieche den Tod. Ich sehe überall dunkle Silhouetten, ganz besonders wenn die Sonne stolz am Himmel strahlt. Umso länger und größer wirken die Schatten dann. Sie wissen, dass ich sie sehen, dass ich sie hören kann. Sie sind meine Begleiter und informieren mich über alles und jeden. Denn sie wissen alles. Und noch mehr.
In Gedanken hörte ich an dieser Stelle auf zu lesen. Diese Person hatte offenbar eine enge Beziehung zu den Schatten. Ein Schattenmagier vielleicht? Jemand wie mein Vater oder mein Onkel? Nicht mal die beiden wussten, wie die Familie an dieses einzigartige Erbe gekommen war. Wann hatte das angefangen? Fragen, die ich oft als Kind gestellt, aber oftmals keine Antwort darauf bekommen hatte. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass ich ausgerechnet hier genau diese Antworten fand?
Imesha
Ich sah mir Buchrücken für Buchrücken an, doch bislang kein Glück. Zwei Regale weiter war ich ebenso erfolglos. Irgendwie erwischte ich dauernd die falschen Stellen, an denen ich suchen sollte und war kurz davor zu Drasil zu gehen, um ihn um Hilfe zu bitten. Im Archiv hatte ich deutlich weniger Schwierigkeiten gehabt mich zu orientieren, denn alles war nach einem bestimmten System sortiert. Hier hingegen schien kaum etwas Sinn zu ergeben. Manchmal standen Wissensbücher zwischen Legenden und Berichten. Außerdem waren sie weder nach Name noch nach Datum sortiert. Gojo-sama hätte hier einen Wutanfall bekommen.
Seufzend blieb ich vor dem nächsten Regal, das bis zur Decke reichte, stehen und ließ den Blick suchend umherschweifen. In diesem Moment kam Drasil um die Ecke und sah mich aus seinen stürmisch grauen Augen direkt an. >Kann ich dir helfen?<
>Wenn du mir das System erklärst, komme ich sicherlich voran.< Ich hätte ihn lieber nach meinen Eltern ausgefragt, doch dieses Bedürfnis drückte ich nieder. Dafür war später noch Zeit. Jetzt musste ich erstmal andere Informationen finden.
>Es gibt kein System. Jedes Buch steht dort, wo es stehen möchte.< Er bemerkte meinen verwirrten sowie ungläubigen Gesichtsausdruck und stieß ein leises Lachen aus, was sich eher nach einem harmlosen Grollen anhörte. >Dir wird nur das offenbart, wonach du von Herzen suchst. Fragen, die dir auf der Seele brennen. Manchmal ist dir das bewusst, meistens eher nicht. Andere wiederum sind durcheinander. So, wie es bei dir der Fall ist.<