Cael
Es war für mich erstaunlich zu sehen, wie diese Frau nur mithilfe von Magie dermaßen lebensecht und klar wirkte, wenn sie gar nicht wirklich anwesend war. Sie schien eine gespeicherte Erinnerung zu sein, keine Astralreisende, wie es für Magi wie mich möglich war. Ihre Worte waren deutlich zu hören und was sie zu sagen hatte, löste ein seltsames Gefühl in mir aus. Nicht wegen der Antworten, die Ilea in der wandernden Stadt erwarteten, sondern wegen ihrer letzten Warnung. Auch wenn ich nichts mit Kranichen zu tun hatte, wusste ich, dass sie mich damit meinte und es missfiel mir, dass sie sich in die Beziehung ihrer Tochter einmischte, als hätte sie das Recht dazu. Bislang war ich davon ausgegangen, dass sie Ilea ähnlich war, aber die Aussage, Liebe sei für sie nicht bestimmt, das… das sagte keine Mutter. Meine Mutter hätte sich lieber die Zunge verbrannt, als uns Kindern so etwas ins Gesicht zu sagen.
Ilea blickte völlig überfordert drein, deshalb löste ich mich von der Stelle und ging auf sie zu. Ein mitfühlender Ausdruck malte sich in mein Gesicht. >Du hast deine Mutter gefunden.< stellte ich das Offensichtliche fest. Ich wusste nicht, welche Gedanken ihr durch den Kopf jagten, deshalb gab ich ihr die Zeit die richtigen Worte zu finden, um das zu verarbeiten, was sich kurz zuvor hier abgespielt hatte.
Imesha
Ich rieb mir seufzend über die Stirn, hinter der es unangenehm pochte. Heute war einfach zu viel auf einmal passiert, viel zu viele Wahrheiten waren ausgesprochen worden. Ich würde viele Nächte brauchen, um auch nur ein Drittel davon zu verarbeiten. Trotzdem durfte ich nicht aufgeben, nicht, wenn ich dem Geheimnis der Stadt und dem meiner verstorbenen Eltern näherkommen wollte. Wenn Drasil meinte, dass die Bibliothek sich den Bedürfnissen des Lesers anpasste, so sei es. Ich würde an nichts denken. Wenn das überhaupt möglich war…
Ich bedankte mich bei ihm mit einem kleinen Lächeln, als er sich von mir abwandte und mich wieder alleinließ. Woher er gewusst haben konnte, dass ich durcheinander war, lag entweder an seiner mysteriösen Magie oder mir stand das Chaos ins Gesicht geschrieben. Eigentlich mochte ich es nicht, wenn ich für andere leicht durchschaubar war, aber da ich momentan viel durchmachte, musste ich mit mir selbst etwas nachsichtig sein. Zu viel Stress würde mich nur tiefer in die Dunkelheit stürzen, die nach wie vor in mir schlummerte. Lauernd und verschlingend. Ich atmete den Gedanken fort und widmete mich wieder den Büchern vor mir, denen ich zuvor kaum Beachtung geschenkt hatte. Erst jetzt fiel mir auf, dass es sich dabei um Märchen und Legenden handelte. Eine sehr interessante Ansammlung. Manche Titel sagten mir gar nichts, andere wiederum kamen mir vage bekannt vor. Ich dachte nicht lange nach, sondern griff nach einem großformatigen Buch, das magischen Wesen gewidmet war. Sumire hätte dieses Werk definitiv gefallen. Es war auf fast jeder Seite mit lebensechten Zeichnungen bebildert. Fast so, als könnte man die Wesen mit den Fingerspitzen ertasten.