Ryu
Wieder erschollen die Stimmen, wie ein nährkommendes Gewitter und einziger Flügelschlag des silbrig-weißen Drachens genügte, um für Stille zu sorgen. "Du trägst den Namen eines Drachens und du trägst den Namen eines Verdammten", seine weiße Zähne blitzten auf. Lang und scharf. Er könnte mich mit einem einzigen Bissen verschlingen. "Meine Eltern gaben mir den Namen Ryu, weil ich vom heiligen Baum meiner Heimat auserwählt wurde und durch meine Adern halbdämonisches Drachenblut fließt. Ich trage ihn mit Ehre", antwortete ich mit eine feste Stimme. Seine Nüstern blähten sich auf und sog dann die Luft bis sie an meine Kleider zerrten: "Ich kann die Anderen leicht in deinem Blut riechen. Der Verlorene. Die leidende Brüder und Schwestern. Dein Vorfahre hat ein namenloses Verbrechen begangen und du glaubst du seist von unserem Bruder Ahi auserwählt, der in deinem Blut bebt? Dass du würdig bist diesen stolzen Namen zu tragen?" Er musste den Erzeuger meines Vaters meinen, denn einen anderen Reim konnte ich mir daraus nicht machen. Mein Vater hatte früher oft die Präsenz von zwei Drachen in seinem Inneren gespürt, die gegensätzlich gewesen waren. Ob sie gemeint waren? Und was bedeutete der Verlorene? Vielleicht die dämonische Seite? Ich ging auf einem Knie und senkte mein Kopf: "Es tut mir leid, welches Schicksal eure Brüder und Schwestern ereilt waren. Ich kann nicht rückgängig machen, was geschehen ist und ich gebe mein Wort den Namen in Ehren zu halten, damit eurer Bruder den Seelenfrieden finden kann. Der Vorfahre, der die grausame Tat begangen hatte, ist schon seit vielen Jahren vor meiner Geburt zu Asche geworden. Mein Vater trifft nicht die Schuld, denn wie eure Brüder und der Schwestern wurde er Opfer eines furchtbaren Verbrechens. Es ist eine traurige Wahrheit, dass dieser Verbrecher sein eigener Vater gewesen war. Doch wir sind nicht wie dieser Mann, wir handeln danach, was uns richtig erscheint, wir beschützen die, die wir lieben und würdigen die Magie, die uns gegeben wurde. Der Name Thyell hat eine neue Bedeutung gewonnen und ist nicht mehr der Name eines Verdammten. Und tief in meinem Inneren weiß ich, dass das Erben, das ich erhielt, Schicksal ist. Am Tag meiner Taufe hat eurer Bruder zu mir gesprochen und noch heute erinnere ich mich, wie er zu mir sagte: „Einst wurde ich gezwungen mich zu binden, doch heute wähle ich dich mit freiem Willen. In dir schlägt das Herz eines Drachens, Wairua (=Seelenverwandter).“ Ich hob wieder den Kopf und in meine Augen loderte der Blick eines Drachens. Ich spürte die Magie, die in meinem Blut bebte. Sie war ein Teil von mir und ich war ein Teil von ihr, es war ein unzertrennbarer Band. Die Luft vibrierte. Ich hörte ein Zischen, ein Grummeln, ein Brummen, ein Knistern und undeutliches Geflüster. Der Kopf des silbrig-weißen Drachen näherte sich mir und seine ausstrahlende Macht nahm mir das Atem. Hitze schlug mir entgegen und dann berührten mich die Nüstern am Stirn. Ich riss meine Augen weit auf, in mir brannte ein Feuer lichterloh, so hell wie noch nie zuvor und meine Knochen fühlten sich an, als würden sie schmelzen. Bilder rasten vor meine innere Augen vorbei, Schmerz zuckte immer wieder durch meinem Kopf und als ich glaubte, meine Sinnen würden allmählich verschwinden, löste sich der Drache von mir. Benommen schwankte ich, fand irgendwie mein Gleichgewicht zurück und versuchte mich weiter auf den zitternde Beine zu halten. Meine Seele fühlte sich noch entblößter an, als zuvor. Der Drache hatte bis in den tiefsten Winkel meines Seins geschaut, ihm war nichts verborgen geblieben. Kannte meine Geheimnisse, meine Gedanken, meine Gefühle, meine Erinnerungen. Er wusste, wer ich war. Welche Seele in mir ruhte. Und sein Blick ging noch viel tiefer, er hatte den Geist seines Bruders gesehen und seine Geschichte gelesen. „Er spricht die Wahrheit“, lautete das Urteil des großen Drachens und breitete dabei seine Flügel aus: „Ahi, möget unser Bruder ewig am Himmel leuchten, hat den Erdling zu seinem Wairua auserwählt. In ihm schlägt das Herz eines Drachens, heiße unseren neuen Bruder willkommen.“ Alle Drachen breitete ihre Flügel aus und gaben von sich einen melodischen Brummen, das mein Herz laut Pochen ließ. Das Blut brodelte heiß in meine Adern. „Wairua Ahi, ich schicke dich in deine Welt zurück. Dieser Ort ist nicht für Sterbliche geformt. Brauchst du uns in deine größte Not, so rufe nach uns und wir werden dir die Kraft geben. Doch bedenke, es wird dich verzehren, so handle weise. Suchst du Rat, bitte um Einlass und wir werden ihn dir gewähren. Doch bedenke jeder Besuch kann für dich schwerer werden wieder zurückkehren zu wollen. Möget Ahi über dich wachen, Erdling.“ Luft mit einem süßen Duft strich über meinem Gesicht und alles um mich herum begann sich zu verschwimmen….
Benommen öffnete ich meine Augen und hatte das Gefühl viele Jahren fort gewesen zu sein, aber gleichzeitig waren nur Sekunden vergangen. Ich lag nicht auf dem Boden, wie ich es vermutet hatte, sondern stand immer noch direkt vor dem Regal und meine Hand vor mir ausstreckend. Aber meine Hand umschloss keinen verlaufenen Gegenstand, er war weg. Stattdessen brannte mein Unterarm und als ich ihn umdrehte, sah ich unter meiner Haut etwas Goldenes schlängeln. Als es zur Ruhe kam, offenbarte es sich als einen schlangenähnlichen Drachen, der sich in der Nähe des Handgelenks wie ein Armband um meinem Arm gewunden hatte. Ich betastete die Stelle, es fühlte sich unnatürlich glatt an. Als hätte Jemand flüssiges Gold direkt unter meiner Haut injiziert. Dann nahm ich die Hitze in meinem Körper wahr. Sie wütet in mir, brachte mein Blut zum brodelnd und meine Magie summte stärker als sonst. Auf meinem Rücken fühlte es sich an, als würde das Tattoo sich bewegen, als würde es lebendig werden. Das Licht in der Umgebung stach in meine Augen, ließ leuchtende Punkte vor mir tanzen und ich kniff meine Augen leicht zusammen. Vor mich hintastend verließ ich die Bibliothek und meine Füße trugen mich unbewusst in meinem Zimmer. Ich fragte mich nicht, warum es abgedunkelt war, sondern entkleidete mich und warf die Decke auf dem Boden. Nackt wie ich war ließ ich mich bäuchlings auf den kühlen Laken des Bettes fallen und augenblicklich versank ich in einem tiefen Schlaf.
Dieser Beitrag wurde bereits 1 mal editiert, zuletzt von »Feder« (10.09.2021, 07:12)