Cael
Uff, das war ein äußerst heftiger Beitrag. Wie vermutet hatte die Person sich der Schattenseite angeschlossen, doch die letzten Sätze machten mir Hoffnung. Um das Licht zu erhalten… Was genau war wohl damit gemeint? Was musste in den Schatten getan werden? Ich blätterte weiter, gespannt, wie sich das Ganze auflösen würde, als Ilea mir eine besonders interessante Frage stellte. Sie war nicht die Erste, die das fragte. Das hatte ich schon damals als Kind getan.
>Es gibt einige Theorien. Laut meiner Mutter wird alles aus dem Gleichgewicht geraten und alle Wesen aus der Zwischenwelt werden sich in unsere Welten stürzen. Keine gute Aussicht. Das wäre zu viel ungebändigtes Chaos auf einmal. Ivoli hat dasselbe gesagt. Sehr gefährlich könnte es werden, wenn man die Zwischenwelt nicht angreift, sondern die Kontrolle übernimmt. Frag mich nicht wie, aber höhere Mächte sind durchaus in der Lage alles auf den Kopf zu stellen. Das habe ich mir von den Animagi sagen lassen.< Ich fuhr mir seufzend durchs Haar und lehnte mich zurück. >Es ist allerdings sehr, sehr schwer die Zwischenwelt an sich zu reißen. Niemand weiß genau, wie sie funktioniert. Das ist wie ihr Schutzmechanismus. Zum Schutz aller. Sie ist ein Bindeglied zwischen mehreren Welten und das muss unter allen Umständen so bleiben.<
Mein Blick fiel wieder auf das Tagebuch, dann auf das Buch, das Ilea gerade las. >Bis heute ist es mir ein Rätsel, warum ich von dir geträumt habe, obwohl wir uns nicht kannten. Du warst in Valaris, ich in Ocamma. Trotzdem gab es Nächte, in denen ich dich sah. Durch dieses Fenster… wie du am Boden gelegen hast. Tief und fest schlafend. Im sanften Kerzenschein, dein golden schimmerndes Haar. Die Zwischenwelt hat mir dich gezeigt, bevor ich wusste, dass du wirklich existierst.< erzählte ich ihr mit offenem Blick.
Imesha
Als Ryu im Bad verschwand, um sich wieder anzuziehen, ertappte ich mich selbst dabei, wie ich ihm zu lange hinterhersah und mich nicht daran störte, dass er unter der Decke nackt war. Das musste wohl bedeuten, dass ich mich zu ihm hingezogen fühlte. Dass ich in Betracht zog, ihn noch näher kennenzulernen, als bloß Küsse auszutauschen. Hitze schoss in meine Wangen. Mir das bewusst zu machen, stellte seltsame Dinge mit mir an. Besser ich konzentrierte mich auf die Schriftrolle. Das Band zu lösen war mir nämlich vertraut und erinnerte mich an die vielen Stunden im Palastarchiv. Dort, wo auch Ryu eine Zeit lang gearbeitet hatte. Und offenbar konnte ich keinen Gedanken ohne ihn zu Ende denken. Oje…
Fertig angezogen kam er zurück ins Zimmer und setzte sich neben mich. Obwohl wir uns nicht berührten, spürte ich die Wärme, die er ausstrahlte. Das geborgene und sichere Gefühl, das seine Nähe auslöste. >Mehr als bereit.< erwiderte ich ernst und rollte die Schriftrolle sogleich auseinander. Sie war durchschnittlich lang. Mit einigen sehr seltsamen Zeichnungen. Symbole, die mir irgendwie vertraut und doch fremd waren. Vielleicht weitere versteckte Geheimnisse in meinen blockierten Erinnerungen. Was mir jedoch ins Auge stach, war die kursive, fehlerfreie Schrift. Als hätte man jeden einzelnen Buchstaben gedruckt. Wie in einem Buch. Ich las die ersten Zeilen laut vor und stutzte.
Sieh an, sieh an… du hast einen meiner wertvollsten Schätze gefunden. Mein hart erarbeitetes Wissen auf einer ziemlich schicken Schriftrolle, die ich nur für diesen Anlass ausgesucht habe. Normalerweise bevorzuge ich Bücher oder mein eigenes Gedächtnis, aber ich finde, dass das, was ich gerade denke aufs Papier gehört. Für die Magieweber und Magieweberinnen, die ihren Ursprung verloren haben. Wir sind nicht viele. Wir sind sogar sehr, sehr wenige. Da wäre es doch egoistisch von mir alles für mich zu behalten, oder? Klar… Manchmal kann ich ein Mistkerl sein, nur nicht, wenn es dieses besonders wichtige Thema betrifft. Deshalb rate ich dir alles, was du im Folgenden erfahren wirst, ganz genau durchzulesen. Wort für Wort. Symbol für Symbol. Lass alles auf dich wirken wie eine schöne Aussicht, in der du dich verlierst. Hier geht es mehr ums Fühlen als um das Lesen an sich. Klingt kompliziert? Ist es auch. Sonst könnten alle Magi Magie weben und das wäre wirklich blöd. Dann wäre ich nichts Besonderes mehr. Oder du. Das ist natürlich scherzhaft gemeint, aber auch wieder nicht. Bin wohl auch eher eine komplizierte Person.
Ich hörte auf zu lesen und blinzelte Ryu verwirrt an. Mit allem hatte ich gerechnet, nur nicht damit. Das klang wie jemand, der aus einer Laune heraus einen Tagebucheintrag verfasst hatte. Es steckte keine Wissenschaft dahinter, nur der persönliche Charakter des Schreibers. >Das… ist sehr interessant.<