Zen
Nachdem ich die Plätzchen sorgfältig und in gleicher Anzahl in kleine Beutel gefüllt hatte, legte ich sie in einen Korb hinein, den ich nach dem Mittagessen für meinen Besuch im Waisenhaus hier abholen würde. Sicherheitshalber hinterließ ich eine Notiz, auf der ich ausdrücklich verbot sich einen Beutel zu nehmen, weil die Plätzchen für die Kinder gedacht waren. Das reichte als Grund, um Naschkatzen wie meine Geschwister fernzuhalten. Wären sie für mich allein bestimmt gewesen, wäre das Verbot mit sofortiger Wirkung ignoriert worden. Manchmal war es anstrengend der älteste Bruder in einer mehrköpfigen Familie zu sein, aber lieber führte ich dieses Leben als irgendein anderes. Es machte mich zu einem reichen, dankbaren Mann.
Ich verabschiedete mich freundlich lächelnd vom Küchenpersonal und freute mich schon auf die leckeren Gerichte, die für uns zubereitet wurden. Die vielen Gerüche verfolgten mich bis in den Speisesaal, wo sich bereits meine Eltern eingefunden hatten. Als sie mich bemerkten, unterbrachen sie ihr Gespräch. >Du hast Zuckerguss auf der Wange.< sagte mein Vater mit einem Schmunzeln auf den Lippen und tippte sich dabei auf die linke Wange. Ertappt wischte ich die Stelle mit dem Handballen sauber.
>Hast du wieder deine berüchtigten Plätzchen gebacken?< fragte Mutter in verschwörerischem Tonfall. Sie wusste genau, dass ich immer einen Beutel für sie übrig hatte, den sie sofort versteckte, bevor die anderen eintrafen. Vater beobachtete unseren Austausch mit einem amüsierten Funkeln in den goldenen Augen. Ich nahm neben ihr Platz und erzählte den beiden von meinen Plänen für den restlichen Tag, bis sich wenig später die Türen öffneten und zwei Wirbelwinde eintraten. Elora und Elior. Und direkt hinter ihnen Cue. Die Jüngste im Bunde. Sie hatte sich ein Buch unter den Arm geklemmt und steuerte auf den Platz neben mir zu. Die Zwillinge setzten sich auf die andere Seite des Tisches. Wäre Ryu anwesend, würde er neben Vater und direkt mir gegenübersitzen. Der leere Platz versetzte mir wie so oft einen sorgenvollen Stich, den ich gekonnt ignorierte, um mich auf das Gegenwärtige zu konzentrieren.
>Ich verhungereeee...! Fast hätte ich einen Umweg in die Küche gemacht, um gleich dort zu essen.<
>Bestimmt gibt es Wolkensuppe und Vulkanbrötchen zu Mittag. Meinem feinen Geruchsinn entgeht nichts.< schloss sich Elora den Worten ihres Bruders an. Dann glitt ihr violetter Blick zu mir. >Absolut nichts.< betonte sie.
Da wir zusammen aufgewachsen waren, verstand ich, worauf sie hinauswollte und ignorierte ihre Worte. Es gab keine Plätzchen mehr.
Kersia
Die Wasseroberfläche funkelte in den verschiedensten Farben, je mehr ich mich den seichteren Gewässern näherte und überall schimmerten die Schuppenkleider der vielen verschiedenen Fischgruppen, die hier angesiedelt waren. Meine Finger streiften sanft ein paar der orangefarbenen und rosaroten Korallen, an denen ich zügig vorbeischwamm. Schräg links über mir ragte das private Königshaus, erbaut auf den Klippen und sehr nah am Wasser, in die Höhe und erstrahlte im Schein der Sonne. Das helle Sandsteingebäude sowie die hohen Kristallfenster waren das Werk eines überaus talentierten Architekten. Eine weitere Sache, die mich am Menschen faszinierte. Ihre Kunst. Natürlich hatte auch Atlantia viel zu bieten, aber die Welt hier oben war einfach erfrischend... anders. Von meiner Mutter wusste ich, dass dieser Palast einst Thales, dem ehemaligen König der Heißen Quellen, gehörte. Es war sein Rückzugsort gewesen. Ein Ort der Freude und aufregender Nächte. So laut einigen Volksleuten, unter die ich mich oftmals mischte, um mir ihre vielen Geschichten über ihn anzuhören. Selbst nach all den Jahren vergötterten sie ihn und hatten nur Gutes zu sagen. Das inspirierte mich. Genauso wie die Tatsache, dass er der einzige Mann war, dem meine Mutter ihr Herz geschenkt hatte. Allein deswegen wollte ich mehr über ihn erfahren. Und natürlich über sein Volk.
Ich entfernte mich langsam von dem prächtigen Gebäude und schwamm an der Landesgrenze entlang, bis ich die versteckte Bucht erreichte, die zu meinen besonderen Lieblingsorten gehörte. Als ich sie das erste Mal entdeckt hatte, war es um mich geschehen. Die Wasserfälle mit den vielen hängenden Wisteriablumen machten diesen Ort zu einem kleinen Paradies. Ich liebte das Rauschen des Wasserfalls. Den herrlichen Duft der Wisterias. Die glatten Felsen, auf denen ich zur Ruhe kommen konnte.
Ich stemmte mich mühelos an einem hoch, nahm darauf Platz und ließ meine Schwanzflosse im lauwarmen Wasser verweilen. Es gab wenige Orte, an denen ich mich vollends entspannen konnte und dieser hier war einer davon. Vor mich hinsummend schob ich mein seerosenfarbenes, langes Haar über meine linke Schulter und begann mit den Fingern in sanften Abwärtsbewegungen hindurchzukämmen.
privates Königshaus
Wisteria-Fälle