Zen
Es war schwer zu begreifen, dass plötzlich jemand da war, der mit einer Legende wie Thales verwandt war. Über zwanzig Jahre waren seit seinem Tod vergangen und noch heute wurde er sehr verehrt. Besonders von seinem eigenen Volk. Kein anderer König hatte eine so enge Beziehung zu seinen Leuten gepflegt wie er. Das war ein unumstrittener Fakt. Für diesen jungen Mann würde es schwer werden in ebendiese Fußstapfen zu treten. Er lastete sich damit eine große Verantwortung auf, aber er schien sich dessen bewusst zu sein. Wieder sprach er ausschließlich die Wahrheit und auch meine Schwester, deren Augen leicht glasig wirkten, nickte langsam. >Sein Herzenslicht reagiert auf dich.< war das Einzige, was sie zu sagen hatte. Für sie reichte das als Beweis, das sah ich ihr auf Anhieb an.
Mein Vater verdaute das Gesagte, denn die ernste Stirnfalte erschien, während er kurz zu mir sah, um sich zu vergewissern, dass keine Lüge geäußert wurde. Ich schüttelte kaum merklich den Kopf. >Eine Ähnlichkeit besteht, das gebe ich zu. Thales war mein langjähriger, bester Freund und er hat viel Gutes für diese Welt getan. Wenn du dich all die Jahre darauf vorbereitet hast, sein Erbe fortzuführen, ist der erste richtige Schritt, uns zunächst genau diese Dokumente vorzulegen.<
>Das reicht nicht!< mischte sich Königin Azuria ein. In ihren ozeanblauen Augen tobte ein Sturm. Von uns allen hatte sie am meisten wegen Thales' Verlust gelitten. Sie hatte das Reich der Heißen Quellen zwei Jahrzehnte lang beschützt, es zu neuem Wohlstand verholfen und nebenbei ihr eigenes Volk geführt. Es war kein Geheimnis, dass die Welt der Meere launisch war und das viel Arbeit bedeutete. Sie lebte für beide Welten. Ich konnte verstehen, warum sie trotz Jahwes ehrlichen Worten defensiv wurde.
Ich seufzte leise. >Fakt ist, dass wenn der amtierende Monarch keine direkten Nachkommen haben sollte, die Erbfolge auf seine Geschwister und deren Nachkommen übertragen wird. Das ist das Gesetz der Heißen Quellen. Änderungen oder Ergänzungen dieser Erbfolgeregelung können nur durch eine einstimmige Entscheidung des königlichen Rates und der Zustimmung des Volkes erfolgen.<
Selbst wenn ich hier für einen völlig Fremden Partei ergriff, mussten wir diplomatisch bleiben und uns Gedanken über die nächsten Schritte machen.
Kersia
Es überraschte mich nicht, dass Mutter die neue Wendung alles andere als willkommen hieß. Auch in mir kämpften die unterschiedlichsten Gefühle, weil ich einerseits das Volk der Heißen Quellen wie sie beschützen wollte, aber andererseits einsah, dass Jahwe tatsächlich hier war, um in die großen Fußstapfen seines Onkels zu treten. Er sprach mit einer Wahrhaftigkeit, dass ich Zens Fähigkeit nicht brauchte, um ihm Glauben zu schenken. Das machte es dennoch nicht einfacher. Besonders nicht für meine Mutter, die um Fassung rang. Bestimmt überschlugen sich gerade ihre Gedanken. Aus vielerlei Gründen. Ich legte meine Hand auf ihre verkrampften Finger und sah zu Zen, der eines der Gesetze rezitierte. Ich kannte sie genauso gut wie er.
>Im Buch eins, Kapitel zwei, Abschnitt drei steht aber auch, dass unabhängig von einer bestehenden Blutsverwandtschaft zum Monarchen die Person, die nicht dem rechtmäßigen Glauben des Königreichs angehört, von der Erbfolge ausgeschlossen wird.< fügte ich ernst hinzu und zog damit einige Blicke auf mich. Ich schob das Kinn vor. >Selbst wenn uns die Dokumente vorgelegt werden, macht das dich nicht zum König. Du magst das Volk über Jahre hinweg kennengelernt haben und die Menschen dort wie deine eigene Familie lieben, aber das hast du im Schleier der Lüge und der Täuschung getan. Es fehlt der Glaube des Königreichs.< Mit der freien Hand griff ich nach dem Glas Wasser und nahm einen Schluck. >Wenn ich eines aus den Geschichtsbüchern und von den dort lebenden Menschen gelernt habe, dann das König Thales ein offenes, ehrliches Verhältnis zu seinem Volk gepflegt hat. Wie ein Vater. Wie ein großer Bruder. Eine überaus interessante Regierungsform, die sich aber durchgesetzt hat und heute noch funktioniert.< Aus dem Augenwinkel konnte ich Mutters erstaunten Gesichtsausdruck sehen. Das war vielleicht das erste Mal, dass ich völlig ernst blieb, ohne den ein oder anderen Witz einzubauen. Trotzdem gab es noch etwas, was ich fairerweise sagen musste, um guten Gewissens meine Ansprache zu beenden.
>Es besteht jedoch die Möglichkeit, sich zu beweisen. Wenn man sich auf Agoma beruft, siehe Kapitel vier der Gesetzesschriften, wird der Thronfolger dazu aufgefordert, sich einem mehrtägigen Kampf zu stellen, der seine körperliche und mentale Stärke auf die Probe stellt. Es handelt sich dabei um eine symbolische Prüfung, die ihn auf seine zukünftige Rolle als Monarch vorbereiten soll. Außerdem soll die Prüfung dem Volk die Gelegenheit geben, den zukünftigen Herrscher in Aktion zu sehen und ein starkes Vertrauen in seine Führungskompetenzen zu entwickeln.<
Meine Worte lösten die nächste Welle Gemurmel aus und ich sah, wie König Ardan sich zu seiner Frau vorbeugte, um sich mit ihr auszutauschen. Dabei begegnete ich Zens Blick. Er lächelte leicht. Dieses Wissen hatte ich mir dank ihm und meiner Vorliebe für unfassbar langweilige Texte angeeignet. Dann schaute ich zu Jahwe. Wieder mit gemischten Gefühlen. >Du behältst das Recht, jederzeit vor oder während des Kampfes zurückzutreten. Ein Rücktritt führt aber direkt zur Aberkennung des Anspruchs auf den Thron.< warnte ich ihn vor.