Zen
Das Schrecklichste an seiner Aussage war, dass er tatsächlich jedes einzelne Wort glaubte. Ich suchte vergeblich nach einer Lüge. Nach Verrat. Er war der festen Überzeugung, dass das, was er ihr angetan hatte, in Anbetracht seiner damaligen Situation gerechtfertigt war. Dieses Denken zeigte, dass er nichts daraus gelernt hatte. Er hätte gar nicht erst auftauchen sollen und ich war froh um Willows deutliche Abneigung, als sie ihn in seine Schranken verwies. Dabei entging mir eine ganz wesentliche Kleinigkeit, die binnen weniger Sekunden zu einem ernstzunehmenden Problem heranwuchs. Ich hatte keine Zeit zu reagieren. In einem Moment stand ich noch hinter Willow, unsere Finger ineinander verschränkt, und im nächsten presste der Elf seine Lippen auf ihren Hals, während seine Klinge im Schein der Sonne aufblitzte.
Mir blieb das Herz in der Brust stehen.
Tief in mir drin rumorte es bedrohlich.
Nach außen hin zeigte ich jedoch keine Emotion. Als der Diplomat in der Familie hatte ich gelernt selbst in kritischen Situationen Ruhe zu bewahren. Es war auch nicht die erste Geiselnahme, die ich erlebte, aber in diesem Fall war ich persönlich davon betroffen. >Du denkst, Willow gehört dir? Da liegst du völlig falsch. Sie gehört zu mir. Wenn du sie haben willst, dann gewinn sie zurück, indem du ihr beweist, dass du stärker bist als ich.< In Gedanken übergab ich mich wegen meiner Worte. Willow gehörte nur sich selbst, aber er würde es nicht verstehen. Ich musste seine Sprache sprechen. Selbst wenn es die der Gewalt war.
Ohne ihn aus den Augen zu lassen, zog ich den Dolch hervor, den sie mir gegeben hatte. >Es sei denn, du willst dich weiter wie ein Feigling hinter ihr verstecken. Meine Familie hat euch Elfen im Krieg wie Vieh abgeschlachtet. Was macht da ein Opfer mehr? Dich kriege ich auch noch einen Kopf kürzer.< fuhr ich überheblich fort und zuckte dabei gelassen mit den Schultern. Um ihm zu signalisieren, dass ich ihn für keine Bedrohung hielt. Er musste nicht wissen, wie schnell mein Verstand gerade arbeitete, um sicherzustellen, dass Willow unbeschadet seinem Griff entfloh.
Kersia
Offenbar war mir die Überraschung gelungen, denn er schien wirklich keine Ahnung von Rätseltischen und der chaotischen Ader seines Onkels zu haben. Wobei Letzteres mich etwas stutzig machte, da Nalu ihn gut genug kennen müsste, um Geschichten über ihn zu erzählen. Oder hatte er ihm nichts gesagt, um ihn zu schonen? Würde es ihm überhaupt helfen oder ein gutes Gefühl geben, wenn er mehr über Thales erfuhr? Ich an seiner Stelle hätte nach jedem kleinsten Funken Geschichte gesucht, um diesen Mann besser zu verstehen, aber ich konnte nicht von mir auf ihn schließen.
Vielleicht wäre es sinnvoll klein anzufangen. >Oh ja, dein Onkel war ein ganz kreativer, abenteuerlustiger Kopf. Er hat alles gesammelt, was einzigartig und kurios ist. Warum er die Sachen wahllos versteckt hat, ist unklar. Es gibt verschiedene Theorien.< fuhr ich entspannt fort. >Ich glaube, er hat das zu Beginn aus einer Laune heraus getan und es irgendwann zur Gewohnheit gemacht, meine Mutter hingegen ist der Meinung, er hätte zu viel Freizeit gehabt. Hätte sie nicht einen ganzen Putztrupp geschickt, um für Ordnung zu sorgen, wäre das Königshaus zerfallen. Ich erinnere mich nur an einen übergroßen Spielplatz.<
Meine Mundwinkel zuckten, als ich an die aufregenden Stunden aus meiner Kindheit dachte. >Es gibt noch zwei weitere Rätseltische, die ganz gewöhnlich aussehen, aber ich verrate dir natürlich nicht, wo sie sind. Wo bleibt sonst der Spaß?<
Als ich zu Jahwe hinaufsah, packte ich ihn am Handgelenk und zog ihn zu mir in die Hocke, damit er sich das Ganze besser ansehen konnte. >Wenn du mit einem Rätsel fertig bist, löst du einen Mechanismus aus und dir wird das nächste Rätsel offenbart. Manchmal sind es Geheimfächer, die sich öffnen. Oder du musst eingravierte Worte finden, sie richtig zusammensetzen und ein wenig Magie wirken. Momentan geht es um ein Schiebebild, dessen Teile an die richtige Position umgestellt werden müssen.< Ich zeigte ihm die quadratische Einbuchtung an der Seite des Tisches, in der acht verschiebbare, bebilderte Puzzlestücke zu sehen waren. Die neunte Stelle war leer, damit man die Quadrate hin- und herschieben konnte.
>An diesem Rätsel habe ich stundenlang gesessen. Ich wusste nicht, was die einzelnen Linien für ein Bild ergeben sollen.< An die Frustration konnte ich mich noch sehr gut erinnern. >Also habe ich Nachforschungen angestellt und herausgefunden, dass der Tisch aus Ocamma kommt. Wegen des Holzes. Wunderweide wächst nämlich nur dort. Danach habe ich hier in der Bibliothek alle Bücher zusammengesucht, die in Verbindung mit dem Königreich stehen und nach Zeichnungen oder Symbolen gesucht, die zu den verschnörkelten Linien passen könnten. Das hat mich Tage gekostet.< Ich lachte leise. >Um welches Symbol es sich letztendlich handelt, werde ich auch nicht verraten. Das waren genügend Hinweise für den Anfang.<
Ich stieß mit der Schulter sanft gegen seine. >Willst du es mal ausprobieren?<