Chastity Ruth
Gleich, nachdem ich in meinem Zimmer angekommen war, hatte ich den Kasten an seinen Platz gelegt und den Zopf gelöst. Mein Blick war auf das Bücherregal gefallen, dass eine Wand für sich beanspruchte. Wenn es etwas gab, was ich gerne tat, außer zu malen, dann war es zu lesen. Dazu kam ich jedoch viel seltener und so sah das Regal ziemlich leer aus, wie ich feststellen musste. Zwar hatte Bilderrahmen, Dekoration und ein paar andere Sachen zwischen die Leere gelegt, dennoch sah man die Mängel an Bücher. Nachdenklich tippte ich mir an das Kinn und sah das Buch an, das ich erst kürzlich gekauft hatte. Wieso nicht? Motiviert, mit einer Hand mit dem Buch und mit der anderen Hand mit dem kleinen Radio stieg ich die Treppen hoch zur breiten Terrasse im ersten Stock. Das Radio lag neben mir auf einem kleinen, runden Tisch und mit gestützten Ellbogen blätterte ich in den Seiten des Buches. An der vierzehnten Seite schnaubte ich empört. Warum hatte die Protagonistin die Tür aufgetreten, wenn es doch eine geheime Mission sein sollte? Das ergab doch überhaupt keinen Sinn! Nach zwei weiteren Seiten gab ich auf. Ich konnte diese Mary Sue einfach nicht lieb gewinnen. Seufzend schlug ich das Buch zu und bemerkte, dass es mittlerweile Nachmittag geworden war. "Und nun, ein Song von unserem Lieblingssänger, Christopher Arctander!" Meine Mundwinkel sanken nach unten und tadelnd sah ich das kleine Radio an. Es dauerte keine Sekunde, da lag mein Finger auf dem Ausschaltknopf, als plötzlich seine Stimme ertönte. Ich hielt inne. Nach einer Weile musste ich mir wie immer zugestehen, dass er, naja, schon gut singen konnte. Okay, was hieß "schon". Er war ein hochtalentierter Singer. Aber das würde ich IHM nie sagen. Vor allem nicht, wenn er mir meinen Schokopudding wegessen wollte. Als ich wieder in meinem Zimmer angekommen war, lag ein Kleid auf dem Bett und ein kleiner Zettel. "Guten Abend, Ruth. Bedauerlicher Weise habe ich heute so viel zu tun, dass ich dir das Kleid nicht persönlich bringen kann. Von deiner Mutter habe ich erfahren, dass die Familie Corraface heute zum Abendessen eingeladen ist. Da ich nichts von dir gehört habe, wusste ich, dass du es vergessen haben musst. Ziehe das Kleid an und schaue bitte bei Graceline vorbei. Sie wird sich um deine Frisur kümmern. Viel Spaß. Vergiss' deine Manieren nicht! In Liebe, Mrs Seerose." Oh, stimmt, heute würden Brodan und Mr und Mrs Corraface zu uns kommen. Sie waren oft hier, gelegentlich fehlten sie ein oder zwei Tage, wenn sie viel zu tun hatten. Brodan war etwas öfter da. Wie befohlen zog ich das Kleid an und ging dann zu Grace, die meine vordersten Strähnen wickelte und hinten mit verzierten Klammern festhielt. "Wunderbar", lobte sie sich selbst. Ich lächelte und schüttelte den Kopf. Manchmal kam mir der Wunsch auf, moderne Kleidung anzuziehen, wenn sie bei uns eingeladen waren. Bisher war das nur drei Mal vorgekommen. Irgendwann später saß ich mit meinen Eltern, meinen Geschwistern und mit Mr und Mrs Corraface am Esstisch, wir warteten jedoch auf Brodan, der sich aufgrund seines Kampftraining verspätete. "Wo ist eigentlich Christopher?", fragte meine Mom freundlich und sah mich an. "Draußen im Garten, mit seinen Freunden", antwortete ich. "Er ist da!", Mr Greward eilte in das Esszimmer und verbeugte sich höflich vor unseren Gästen. "Ruth, wärst du so freundlich, ihn in Empfang zu nehmen?", lächelte meine Mutter. "Natürlich, Mom", ich stand auf und ging mit Mr Greward die Treppen herunter, der nun nicht mehr fröhlich wirkte. Maulend sagte er: "Dieser kleine... Frechsdachs Christopher hat mich schon wieder "Grewar" genannt. Irgendwann schneide ich ihm seine Locken ab!" Lächelnd ging ich auf die Eingangstür zu. "Tja, Mr Greward, Christopher hat einen besonderen Humor, wie Sie wissen." "Pah", wedelte dieser ab. Brodan stieg aus dem Wagen und sah mich lächelnd an. Freundlich winkte ich ihm zu, ehe wir uns umarmten. "Guten Abend, hübsche Dame", sagte er charmant.