Violet
Ich höre wie meine Eltern sich unten mit lauten Stimmen über irgendwas unterhalten. Oder eher streiten. Das tun sie öfter in letzter Zeit. Hab mich schon fast dran gewöhnt. Musste ja früher oder später kommen. Und obwohl ich nicht weiß, was passiert ist, kann ich es mir schon auch irgendwie vorstellen. Mum redet kaum noch mit Dad, geschweige denn lächelt ihn an oder zeigt irgendeine Art von Zuneigung ihm gegenüber. Er versucht krampfhaft die Stimmung aufzuhellen und bemüht sich dabei ein bisschen zu sehr. Man kann ihm ansehen, dass er sich wegen etwas schuldig fühlt. Bestimmt hat er eine Affäre oder so. Aber das ist etwas wo ich mich nicht einmische. Klar find ich es nicht gerade so geil, aber die beiden sollen das unter sich regeln. Ich mische mich nicht in ihre Angelegenheiten ein, dann lassen sie mich auch in Ruhe. Und das ist was ich jetzt auch brauch. Ruhe. Morgen ist nämlich der erste Schultag an der neuen Schule und ich hab so was von keine Lust darauf. Ich spiele mit dem Gedanken einfach zu schwänzen, aber dann würden Mum und Dad Fragen stellen und sich um mich kümmern und sich tatsächlich mit mir auseinander setzen. Und dann würden sie die Male an meinem Arm entdecken und all das andere Zeug und ich hab keine Lust mich ihnen zu erklären. Vor allem nicht meinem Dad. Ich kann ihn schon fats hören. "Violet. Selbstverletzendes Verhalten kann auf eine wirklich ernste psychische Störung zurück zu führen sein... bla bla bla.." manchmal ist er nicht wie mein Dad sondern wie mein Psychiater um den ich nicht gebeten habe. Nein. Besser sie wissen nichts von Allem. Es ist sowieso nichts weiter schlimmes. Ich sehe halt nun mal irgendwie gerne die roten Striche und das Blut. Es .. fasziniert mich irgendwie. Ich bin nicht verzweifelt oder depressiv oder gar Borderliner. Ich bin halt... anders. Na und?
Den Abend verbringen wir damit Umzugskartons auszupacken und uns in dem neuen Haus einzurichten. Dann bestellen wir alle Pizza vom Italiener und Mum und Dad öffnen einen teuren Rotwein, von dem ich auch ein Glas trinke. Es schmeckt scheußlich. Anschließend verzieht Dad sich nach oben in sein Arbeitszimmer um all seine Sachen für den morgigen Tag vorzubereiten. Er fängt schon früh an zu arbeiten. Normalerweise würde er sich mehr Zeit lassen, aber ich vermute mal, dass er möglichst viel Ablenkung von den Eheproblemen und ein wenig Abwechslung zu Mums Vorwurfsvoll, gequält fröhlicher, verletzter Miene braucht. Er liebt seine Arbeit, auch wenn sie schwierig und aufreibend ist. Er vergräbt sich immer in dicken Wälzern mit Titeln wie 'Psychopathen: Gefährlich oder voller Chancen? Wer sind sie wirklich?' Dann weiß man, dass man ihn nicht stören darf. Mum verräumt das Geschirr und wünscht mir dann ebenfalls eine gute Nacht, ehe sie Richtung Badezimmer davon geht um ein langes Schaumbad zu nehmen. Ich bin irgendwie noch nicht so müde und so mache ich mich auf Erkundungstour im neuen Haus. Bei der kurzen Besichtigung vor einer Woche hab ich kaum mehr als den Empfangsbereich gesehen. Und schon da ist mir die Türe die zum Keller führt ins Auge gesprungen. Ich frage mich wieso uns die Maklerin da nicht hin geführt hat. Also schnappe ich mir mein Handy, schalte die Taschenlampe an und öffne die Knarzende Türe. Der Lichtkegel der Taschenlampe offenbart eine staubige, alte Steintreppe die nach unten führt. Ohne zu zögern laufe ich die zehn Stufen nach unten und sehe mich dann neugierig um. Angst hab ich keine. Was soll hier unten sein? Ein paar Ratten höchstens. Und Ratten sind eigentlich zu tiefst missverstandene Geschöpfe. Sie sind intelligent und ich verstehe nicht wieso sich so viele vor ihnen ekeln. Ich finde sie süß. Spinnen sind auch kein Problem. Nützliche, kleine Viecher. Und obwohl ich viele Horrorfilme gesehen habe in denen es genau so ein Erdgeschoss gibt, wo dann Geister oder andere Monster wohnen, so bin ich etwas zu alt für Geistergeschichten. Und selbst wenn es welche gäbe. Ich fände es eher interessant welchen zu begegnen.
Hier unten ist alles voller Staub und Spinnenweben. Hier war schon lange niemand mehr. Es ist riesig. Es erstreckt sich fast über das ganze Grundstück, wie es aussieht. Und es ist vollgestellt mit alten Möbeln und kuriosen Dingen. Weiter hinten befindet sich, was nach einem Labor aussieht. Da steht eine ganze Wand voller Regale voll mit Glasbehältern voller ekliger Dinge. Augen, Organe, sogar sowas wie Embryos. "Cool." murmle ich und grinse leicht bei dem Anblick und im selben Atemzug: "Eklig." aber das Grinsen verschwindet nicht von meinem Gesicht. Das Haus ist wirklich wie in diesen Horrorfilmen. Total der Wahnsinn!
"Violet!" die Stimme meiner Mum klingt nur sehr leise und gedämpft. Ich sehe zur Decke. "Violet! Es ist spät!" ich seufze und mit einem letzten Blick auf das Labor gehe ich zurück zur Treppe und verlasse den coolen, super grusligen Keller. "Violet!" ertönt ein drittes mal meine Mutter und ich rufe etwas genervt zurück: "Komm schon!" ich schließe die Türe sorgfältig und mache die Taschenlampe aus. Dann gehe ich die Treppe hoch in den ersten Stock und dort in mein Zimmer. Da ich ein eigenes, angrenzendes Badezimmer für mich habe, brauche ich mich mit duschen nicht so sehr zu beeilen. Ich aale mich ein wenig unter dem warmen Wasser und dann schlüpfe ich in meinen Bademantel. Ich lösche das Licht im Bad und lasse mich auf mein Bett fallen. Nachdem ich noch kurz in meinem Buch gelesen habe, lösche ich auch das Licht in meinem Zimmer und schlafe bald darauf ein.
Offene Arme der gewaltigste Protest den wir haben, will sagen: Bevor noch jemand hinfällt, passt bitte aufeinander auf in dieser scheiß Welt!