Daniel:
Der Schmerz und das Gefühl des Verrats beschlich mich, obwohl ich angenommen hatte, das bereits überwunden zu haben. Aber es war wohl eine Sache zu verzeihen und die andere zu vergessen und wieder vertrauen zu können. Das erste war mir gelungen, bei dem zweiten versagte ich kläglich.
Ich warf einen schnellen Blick zu meiner Freundin, die nervös an ihrer Unterlippe knabberte und im nächsten Augenblick kam mein Bruder bereits in den Flur, um mich persönlich zu begrüßen. Er hatte sich stark verändert. Noch vor einem Jahr, das letzte Mal, dass ich ihn gesehen hatte, war er schlaksig gewesen und war mehr Junge als ein Mann, doch nun stand einer von mir. Er überragte mich um einen Kopf und hatte richtig Muskelmasse antrainiert, die unter seinem T-Shirt hervortraten. Auch trug er sein Haar jetzt kurz und hatte sich einen gepflegten Dreitagebart wachsen lassen. Er sah gut aus und das war gefundenes Fressen für die Eifersucht, die langsam in meinem Inneren aufkeimte.
"Hi Dan." - begrüßte er mich und drückte mich an sich. Wie erstarrt blieb ich stehen und bewegte mich keinen Milimeter. "Gut siehst du aus." - bemerkte er, als er wieder Abstand zwischen uns beiden schaffte und mich von oben ansah. Ich fühlte mich klein, unbedeutsam, verzweifelt. Erneut warf ich Tamara einen Blick zu, den sie jedoch nicht erwiderte.
"Ja, du auch." - sagte ich nur kurzgebunden und versuchte ruhige zu atmen. Es war mir alles zu viel. Auf eine Begegnung mit meinem Rivalen, als den ich meinen Bruder empfand war ich einfach nicht vorbereitet.
Auch wenn es jetzt feige war, sah ich jedoch keine andere Möglichkeit, als mich umzudrehen und das Haus fluchtartig zu verlassen.
"Daniel." - hörte ich noch Tamaras Stimme mir hinterherrufen, doch ich blieb nicht stehen. Meine Beine wurde immer schneller, bis ich keinen Asphalt sondern Gras unter meinen Füssen spürte.
Erst jetzt kam ich zum Stehen und der Atem verließ ganz schnell meinen Mund. Ich schloss meine Augen, um mich wieder zu sammeln und als ich sie wieder aufschlug, runzelte ich die Stirn. Ich befand mich in einem nahe gelegenen Park, in dem als Jugendlicher mit meinem Bruder Football gespielte hatte. Die Erinnerung an diesen Verräter ließ mich laut aufheulen.
"Scheiße!!!" - schimpfte ich lauthals und fuhr mir durch das Haar. Es tat weh, auch nach einem Jahr. "SCHEIßE!!!" - rief ich aufgebracht. In diesen Teil des Parks verirrte sich selten ein Fußgänger, besonders nicht, wenn es dämmerte.